Kürzlich erzählte mir eine Freundin, dass sie ihren 3,5-jährigen Sohn nicht mit dem Buggy in den Kindergarten bringen darf. Die Erzieher hätten ihr das verboten. Das Kind könne schließlich selbst laufen und dies dürfe sie ihm nicht abnehmen.

Ich weiß gar nicht, worüber ich entsetzter bin: Über den massiven Eingriff in die Würde der Mutter und ihr Recht, ihre Erziehung nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten oder die totale Pauschalisierung, die völlig an den Wünschen, Bedürfnissen von Mutter (oder Vater) UND Kind vorbei geht.

Ich habe in den nächsten Stunden über diesen Satz „Das kannst du alleine“ nachgedacht.Was ist das eigentlich für eine Aussage?

Fast alle Dinge, um die ich andere Menschen bitte, kann ich alleine.

Dementsprechend dürfte ich niemals um etwas bitten. Ich bitte aber meinen Partner (UND mein Kind) mir etwas anzureichen oder gar zu bringen, weil ich z.B. mit etwas anderem beschäftigt bin oder – ganz ehrlich – auch einfach mal zu faul bin, aufzustehen.

Ich gehe davon aus, dass mein Partner keinerlei Befürchtungen hat, dass ich eine bestimmte Tätigkeit (wie Tisch decken oder die Spülmaschine ausräumen) verlernen könnte, wenn ich sie mal einmal nicht ausübe.

Woher kommt diese Sorge also bei unseren Kindern?

Ist es nicht viel mehr – mal wieder – die Sorge, dass unsere Kinder uns versklaven könnten, dass wir ihre Dienstboten sind – also die Angst vor dem kindlichen Tyrannen?
Das Argument ist häufig: „Das Kind muss lernen, dass…“

Ja, aber es KANN es doch!

Muss es das täglich unter Beweis stellen? Vielleicht sollte ich auch darauf verzichten, mit dem Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren, damit ich das Fahrradfahren oder laufen nicht verlerne. MIR würde hier keiner Bequemlichkeit vorwerfen, ein Kind ist aber direkt „faul“.

Ist es nicht im Gegenteil ein Beweis einer guten Beziehung, einer engen Bindung, wenn man dem Anderen gerne Dinge abnimmt, wenn er mich darum bittet? Erst recht, wenn dieser Andere all den Krempel, der mir selbstverständlich scheint (wie z.B. anziehen), gerade erst lernt und es ihn noch ziemlich viele Ressourcen kostet, dies umzusetzen?

 

„Selbst tun“ kostet Kinder viel mehr Kraft als uns

Um bei dem Beispiel mit dem Buggy oder dem tragen zu bleiben, obwohl das Kind selbst laufen kann: Zum einen darf man niemals vergessen, wie viel mehr als wir unsere Kinder bei gleicher Strecke leisten müssen – einfach weil ihre Beine noch kürzer sind. Laufen sie noch an der Hand kommt zusätzlich die ungünstige ergonomische Haltung dazu – halten Sie mal einen kompletten Spaziergang von vielleicht 15 Minuten ihren Arm im selben Winkel hoch gestreckt, wie Ihr Kind das tut, wenn es an Ihrer Hand läuft. Wenn ich meinem Sohn das nächste Mal vorwerfe, dass er sich so „an mich hängt“, werde ich an diese Übung denken. Es ist nämlich schmerzhaft und unangenehm.

 

„Selbst tun“ heißt nicht „alleine machen“!

Aber es gibt noch viele andere Gründe dafür, dass ein Kind getragen werden möchte:
Vielleicht ist es noch nicht ausgeschlafen (besagte Freundin arbeitet Vollzeit und muss ihren Sohn daher sehr früh in den Kindergarten bringen). Vielleicht gab es vorher einen Streit beim Anziehen und Aufbrechen, was schon sehr viel Energie gekostet hat. Vielleicht hat man verschlafen und es deshalb eilig. Vielleicht wünscht sich das Kind einfach nur Körperkontakt, weil es z.B. weiß, dass die Mutter danach für einige Zeit weg sein wird. Vielleicht weiß es auch, dass es im Kindergarten die ganze Zeit zur Selbstständigkeit „erzogen“ wird und möchte es noch einmal genießen, sich auszuruhen. Vielleicht ist es NACH dem Kindergarten auch erschöpft vom Tag, dem Lärm, den anderen Kindern, all dem Alleine-machen, dass es dies danach erst recht einfordert.

In der ersten Zeit im Kindergarten und auch heute noch manches Mal nach der Schule ist mein Sohn völlig zurückgeworfen. Er möchte NICHTS selbst machen. Es ist, als ob er sich erholen müsste vom anstrengenden Tag. Und ich habe mich schon recht früh dazu entschieden, ihm das zu geben; diese Dinge – wenn es mir möglich ist – für ihn zu tun: Ihm beim An- und Ausziehen zu helfen, ihm das Essen ins Wohnzimmer zu bringen, wo er sich ausruht und manches andere. Hierbei bin ich als Gebender (und Verantwortlicher für die Beziehung) natürlich gefragt, auch meine eigenen Bedürfnisse immer neu in den Blick zu nehmen. Nicht über meine Grenzen zu gehen und mich erst recht nicht aufzugeben.
Immer wieder darf ich aber meine Grenzen, meine Ängste und meine Glaubenssätze hinterfragen, denn sie haben öfter etwas mit mir als mit meinem Kind zu tun – am meisten mit fehlendem Vertrauen und verinnerlichten Erziehungsgrundsätzen aus meiner Kindheit.
Wenn ich etwas für mein Kind tue, dann sollte ich es GERNE tun. Auf gar keinen Fall sollte ich mich dazu überreden lassen und meinem Kind für sein Bedürfnis ein Schuldgefühl einreden, oder mich zum Opfer machen. Denn ich bin selbst für mein Wohlbefinden verantwortlich und nicht mein Kind (egal, wie alt es ist!). Ich gebe aber zu, dass mir das auch immer wieder passiert und ich mich hier immer wieder neu überprüfen und erden muss.

 

Wird mein Kind zum „Pascha“?

Und selbstverständlich hatte auch ich immer wieder zwischendurch Angst, dass mein Sohn zum „Pascha“ wird und sich immer bedienen lassen wird. Es fällt mir manchmal so schwer zu vertrauen. Als ich jedoch beim ersten Elternsprechtag in der Schule war, bekam ich von den Lehrern das Feedback, das mein Sohn der Selbständigste in der Klasse sei. Er würde sich komplett alleine organisieren und dann noch anderen helfen (er ist auf einer Förderschule mit teils schwerstbehinderten Kindern). Ich war überrascht. Dabei hätte ich es eigentlich wissen müssen.
Jedes Mal nämlich, wenn ich ihn um etwas gebeten habe, das ich dringend von ihm brauchte und sei es, dass er die Dinge selbst tut, die er kann, weil ich es total eilig habe oder ich gerade am Kochen bin und ihm gerade nicht helfen KANN, weil ich mit Pfannen und Töpfen hantiere, dann TUT er es. Ich habe dies immer wieder erlebt und es macht mich zutiefst dankbar.

 

Kinder machen uns nach

Immer wieder erlebe ich, dass Kinder zu ihren Eltern sagen „Mach doch selber!“. Die Kinder reagieren also auf Aufforderungen oder Bitten ihrer Eltern genauso, wie wir Eltern auf die Bitten und Wünsche unserer Kinder oft reagieren. Sie halten uns den Spiegel vor. Während die Erwachsenen dies jedoch als ihr Recht und ihren Erziehungsauftrag betrachten eine Bitte des Kindes mit dem Grund abzulehnen, dass es dieses oder jenes ja alleine könne, wird dieselbe Feststellung des Kindes häufig als „Unverschämtheit“ gewertet.

Ich wünsche mir eine andere Art der Beziehung zu meinem Kind. Eine Beziehung, in der ich auf die Bedürfnisse meines Kindes eingehe und das Kind auf meine. Eine, in der das Kind alle Wünsche formulieren darf, ohne Angst zu haben verurteilt und bewertet zu werden – dies heißt natürlich nicht, dass ALLE seine Wünsche erfüllt werden können. Aber jeder darf GEHÖRT werden.

Ich wünsche mir eine Beziehung, in der es mir gut geht UND meinem Kind.

 


Natascha Makoschey
Natascha Makoschey (33) hat einen 8-jährigen Sohn und arbeitet als Kinderkrankenschwester in der Geburtshilfe.
Wenn sie nicht gerade liest oder das Sams vorliest, zwangsweise Uno spielt, dann quatscht, strickt oder singt sie.

 

Print Friendly, PDF & Email

Shares:


Kostenloses Kennenlern-Gespräch

Mein Beitrag hat Sie berührt? Sie möchten gerne über IHRE Familiensituation sprechen?

Tragen Sie sich hier für ein kostenloses Telefonat zum Kennenlernen ein.

Ich freue mich auf Sie!

    Mit dem Ausfüllen des Kontaktformulars erklären Sie sich mit meinen AGBs und den dort stehenden Hinweisen zur DGSVO einverstanden.
    http://familienbegleitung-koeln.de/impressum/

    Ihr Name (Pflichtfeld)

    Ihre E-Mail-Adresse (Pflichtfeld)

    Ihre Telefon-Nummer (Pflichtfeld)

    Betreff

    Ihre Nachricht

     


     

    Print Friendly, PDF & Email

    Natascha Makoschey (Baujahr 1983) hat einen 9-jährigen Sohn und arbeitet als Kinderkrankenschwester in der Geburtshilfe. Wenn sie nicht gerade Bücher liest, zwangsweise Uno spielt oder darüber nachdenken muss, welchen Pokémon sie am liebsten mag, dann quatscht, strickt oder singt sie.

      10 Comments

    1. Peter Mehlem

      Antworten

      Vielen Dank, Natascha für diesen schönen Artiikel, der mich sehr berührt und zum Nach- und Überdenken bringt. Er zeigt mir, dass es noch viele Bereiche gibt, die Asymmetrie zwischen Erwachsenen und Kindern zu korrigieren und ALLE Menschen in ihren Bedürfnissen ernst zu nehmen.

      Lieben Gruß, Peter

    2. Anonymous

      Antworten

      Grundsätzlich stehe ich da vollkommen bei ihnen. Ich habe 3 Kinder (knapp 7, gerade 4 und knapp 17 Monate). Die Beiden Großen sind recht selbstständig und machen vieles alleine, oft muss ich das auch einfordern, gerade am Morgen wenn wir pünktlich aus dem Haus müssen. Wenn es aber mal zeitlich drin ist und die darum bitten, helfe ich ihnen gerne. Wenn z.B. mein Mann Spätschicht hat und morgens zu Hause lässt die mittlere sich gerne von ihm anziehen etc. Wenn wir nach nem langen Ausflug spät nach Hause kommen und sie müde ist, trage ich bzw mein Mann sie auch die 3 Stockwerke hoch zu unserer Wohnung, obwohl sie es doch alleine kann etc.

      Das Beispiel mit dem Buggy finde ich aber etwas unglücklich gewählt, denn ich bin mir gar nicht sicher das es dem Kindergarten wirklich darum ging, das das Kind es ja “alleine” kann, vielleicht war es nur so dahingesagt und es lagen ganz andere Beweggründe dahinter. (Ganz davon ab, finde ich diese Regelung blöd und würde es mir nicht verbieten lassen, es kann ja wirklich gute Gründe geben, Kind ist noch müde etc…) Aber ich kenne genug Kinder die kaum die Gelegenheit bekommen mal laufen zu DÜRFEN, weil es so einfach bequemer ist und schneller geht, und Zeit ist heutzutage ja oft Mangelware. Zu nem großen Teil wirklich verständlich, dennoch oft schade für die Kinder und ich finde man sollte sich manchmal wirklich überlegen, warum nehme ich jetzt den Buggy. Ist es im Interesse meines Kindes, oder doch eher in meinem? Will mein Kind vielleicht nur nicht laufen, weil es zu selten Gelegenheit bekommt zu laufen um sich daran zu gewöhnen. Hat es keinen Spaß daran, weil ich mir keine Zeit nehme und es nur hetze? Kann ich vielleicht 10min früher los und gemütlich mit ihm gehen und Regenwürmer und Schnecken am Wegesrand bewundern. Muss ja nicht jeden Tag sein auch nicht unbedingt auf dem Weg zum Kindergarten, aber so generell.
      Wir haben den Buggy nach dem 2. Geburtstag eigentlich nie mehr benutzt, weil die Kinder es von klein auf gewohnt waren viel zu laufen (also sie wurden nicht gezwungen, sie durften wann sie wollten und so lange sie wollten (wenn es nicht gerade zeitlich unmöglich war). Ich habe mir oft Zeit genommen und mit ihnen die Gegend erkundet. Gerade wenn sie frisch laufen lernen, laufen die meisten doch unglaublich gerne (natürlich keine großen Strecken) aber gerade in dem Alter sind sie noch sehr langsam und lassen sich von allem ablenken und haben oft ihren eigenen Kopf, wo sie gerne lang wollen und gerade in dem Alter kann man es ihnen viel verleiden, wenn man sie da zu sehr bremst und ihnen quasi beibringt, das sie nicht laufen sollen sondern brav im Buggy sitzen und sich schieben lassen und später wundert man sich dann, das das Kind nach ein paar 100m nicht mehr laufen mag, weil ihm die Beine weh tun.

      • Natascha Makoschey

        Danke für das Feedback!

        Grundsätzlich stimmt das mit den Gelegenheiten zum Laufen natürlich. Andererseits laufen viele Kinder überhaupt nicht gerne von A nach B (evolutionäre Gründe) und manche Eulen-Kinder erst recht nicht morgens um 7 oder halb 8. Von daher gilt es wirklich genau hinzuschauen, ob das Kind wirklich einen Bewegungsanreiz oder doch eher Zuwendung braucht. Ich fand Buggys immer blöd, aber die Rückentrage kam doch noch recht lange bei weiteren Strecken zum Einsatz. Aber ich habe auch kein Auto und bei mir wird alles zu Fuß oder mit Fahrrad geregelt und dass zu MEINEN Zeiten (auch viel abends, wenn das Kind schon müde ist) – da ist es natürlich meine Verantwortung mein Kind nicht zu überfordern und ihm seine Ruhepausen so zuzugestehen, wie sie gebraucht werden.

        Und natürlich ging es dem Kindergarten AUCH um die Bewegung der Kinder. Andererseits denke ich doch, dass die Kinder dort den ganzen Tag rumtollen dürfen (ansonsten wäre ja etwas falsch) und dass Eltern, die ihre Kinder pünktlich in den Kindergarten kriegen müssen, morgens ganz andere Probleme haben (und haben sollten) als sich um den Transport/Bewegung Gedanken zu machen. Wird den Eltern auch verboten mit dem Auto zu kommen? Mit dem Fahrradanhänger? Ich finde jedwede reglementierte Einmischung eines Kindergartens in den privaten Tagesablauf kritisch. Aber hier bin ich sicherlich auch “empfindlicher” als andere.

        Danke jedenfalls für Ihre Gedanken und alles Liebe!

    3. Jana Ludolf

      Antworten

      Liebe Natascha,

      Ein wunderbarer Beitrag, der deutlich macht, das ein wertschätzendes Miteinander entstehen kann, wenn alles Bedürfnisse sein dürfen.

      Vielen Dank dafür.
      Sonnige Grüße
      Jana

    4. Pingback: „Loslassen“ oder „Urlaub von dem, was uns stresst“ – Familienbegleitung Trageberatung Stillberatung Köln

    5. Pingback: Das neue Buch vom gewünschtesten Wunschkind: Eltern-Kind-Beziehungen voller Vertrauen! – Familienbegleitung Trageberatung Stillberatung Köln

    Schreibe einen Kommentar zu Elle Antworten abbrechen

    Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.