Ich kann es nicht mehr hören, echt. In jedem großen Medium, in allen Nachrichten geht die Alarmmeldung herum, dass unsere Kinder während der Zeit der Schulschließung aufgrund der Covid-19-Pandemie schrecklicherweise viel mehr Zeit vor den Bildschirmen verbracht haben als sonst und dafür viel weniger Zeit für Lernen investiert haben als in Präsenzschulzeiten.
Meine Lieblings-Zwischenüberschrift – Ironie – in einem ZEIT-Artikel mit dem Titel “Bereit für die Schüler” (Ausgabe 33 vom 6. August 2020) von Manuel J. Hartung war “Daddeln statt Didaktik”, auf die er bestimmt selbst beim Schreiben ganz stolz war.
Nun haben wir fast alle Lernaufgaben kennen gelernt, die unsere Kinder emotional gesund groß werden lassen. Der letzte Baustein ist: Liebe und Sexualität.
Meine Artikel sind natürlich nie reine objektive Wissensvermittlung, sondern auch ganz viel Meinung und Erfahrungsbericht. Das ist bei diesem speziellen Thema noch mehr so. Und ich werde in einem weiteren Teil auch das Thema des Sexuellen Missbrauchs behandeln. Also bitte ich Euch gut auf Eure eigenen Grenzen zu achten, ob der Artikel für Euch heute dran ist und liebevoll für Euch zu sorgen, wenn Teile davon Euch stark berühren. Mir ging und geht es selbst nicht anders.
Worum geht’s in dieser Entwicklungsphase?
Zwischen dem dritten
und sechsten Lebenjahr beginnt das Kind sich als sinnliches Wesen
wahrzunehmen. Es beginnt verschiedene Rollen auszuprobieren und auch
zu flirten. Die meisten Kinder beginnen in dieser Zeit ihren Körper
genauer zu entdecken und auch die klassische Phase der „Doktorspiele“
mit anderen Kindern fängt hier an. Kinder möchten in ihrer
Geschlechtlichkeit wahrgenommen werden.
Entwicklungsschritte, die Kinder in dieser Zeit meistern ist das Sprechen in ganzen Sätzen und das fließende Wechseln von Realität zu Fantasie. Auch die ersten „Lügen“ fallen in diese Zeit und sind Meilensteine des Gehirns. Eine Voraussetzung für das Lügen ist das Verstehen davon, dass jemand anderes etwas anderes weiß als man selbst (oder eben auch nicht) und das Erkennen von Ursache und Wirkung.
Ein zweijähriges Kind, das sich hinter seinen eigenen Händen versteckt und glaubt, man könne es dort nicht sehen, weil es bei ihm selbst gerade dunkel ist, ist einfach nicht in der Lage zu flunkern.
Geschlechteridentität, Gender-Zementierung und Feminismus
Kinder zwischen drei
und sechs beschäftigen sich stark mit ihrem eigenen Geschlecht und
Geschlechterrollen. Viele zelebrieren in dieser Zeit das über, was
sie für ihr eigenes Geschlecht als „salonfähig“ erkannt haben.
Dabei hilft unsere Industrie natürlich fleißig und gern mit. Selten
gab es so viel geschlechtergetrenntes Spielzeug und Kleidung wie
heute.
Manche Kinder empfinden in dieser Phase (und auch darüber hinaus) ihr biologisches Geschlecht als fluid und wechseln zwischen ihnen hin und her.
Oder sie möchten eine ganze Zeit lang eben genau das andere Geschlecht sein, dass sie „sind“. Einen Freund meines Sohnes mussten wir etwa ein halbes Jahr mit einem Mädchennamen ansprechen und er trug Kleider. Mein Sohn trug zwischendurch Kleider und Nagellack, aber war sich seiner Identität als Junge immer sehr bewusst. Er hat nur „Mädchen gespielt“, während es seinem Freund bitterernst war und es Tränen und Wutgeschrei geben konnte, wenn man ihn versehentlich mit seinem eingetragenen Namen rief.
Es geht also um das Herausfinden der eigenen Geschlechteridentität und was es überhaupt heißt, dass es unterschiedliche Geschlechter gibt. Die ständig hervorgehobene Dualität in unserer Gesellschaft hilft da nicht wirklich weiter und führt auch immer noch zu nervtötenden Stereotypen.
Ich erinnere zum Beispiel ein Gespräch mit meinem Sohn, in dem er sagte, dass ich ja eine Frau sei und VIEL MEHR Angst als er habe. Er sei ja ein Mann und deshalb quasi per se furchtlos. Zum einen fühlte ich mich natürlich in meiner persönlichen Ehre gekränkt. Hatte ich doch gerade erst einen Tag vorher mit meiner Spinnenphobie gedealt und eine große Spinne mit einem Glas nach draußen gesetzt, während mein Sohn schreiend auf dem Küchentisch gestanden hatte, bis die Spinne endlich weg war. Aber noch viel gefährlicher fand ich, dass er glaubt, dass „Angsthaben“ etwas Schlechtes ist und dass die Tatsache, dass man sich tapfer und teilweise großkotzig verhält, angeblich darauf schließen hat, dass man keine Ängste empfindet.
Mein sehr persönliches Gefühl ist, dass Frauen in unserer Gesellschaft immer noch stark benachteiligt und vor allem sexualisiert werden, das aber kleinen Mädchen mittlerweile eine größere Rollenvielfalt zugestanden wird als Jungen. Das Geschlechterbild für kleine Jungs ist nach wie vor sehr eng und es hat mich erschreckt, wie ich im „ach so toleranten Köln“ teilweise von Männern angefeindet wurde, weil ich meinen Jungen Kleider tragen ließ. Offensichtlich müssen Männer immer sehr aufpassen, dass ihnen durch das Tragen von bestimmten Kleidungsstücken nicht versehentlich ein Stück Penis verloren geht. Sau-gefährlich *ironieoff*.
Andererseits werden auch schon kleine Mädchen nach wie vor häufiger als “zickig” bezeichnet, während Jungen eher dafür gelobt werden ihre Meinung durchzusetzen. Dass in einem Einzelfall ein Vater ein vierjähriges Mädchen fragte, “ob es seine Tage habe” als es schlecht gelaunt war, zeigt nur die Spitze der Absurdität und häufig fehlenden Wertschätzung. Auch der Satz zu einem weinenden Jungen “Du bist doch kein Mädchen!” zeigt eine deutliche Herablassung und ist leider immer noch kein Einzelfall.
Große Gefühle und Erfahrungen
Zu der
herausfordernden ersten Auseinandersetzung mit Rollenbildern und dem
Geschlechterbild entwickeln sich bei Kindern in dieser Zeit aber auch
erste sehr enge Freundschaften und auch Verliebtheiten. Auch kleine
Kinder haben romantische, sinnliche und auch sexuelle Gefühle –
für sich selbst und für andere Menschen. Diese Gefühle wollen auch
gelebt und zelebriert werden – die Ausprägungen sind natürlich
von Kind und Kind unterschiedlich.
Der Umgang des
Umfeldes mit dem Kind und die Erfahrungen, die ein Kind in dieser
Zeit macht, entscheiden auf jeden Fall zum großen Teil darüber, ob
es im späteren Leben Liebe und Sexualität miteinander vereinbaren
kann. Ob es in der Lage ist Nähe und Sexualität auseinander zu
halten. Ob es seine eigenen Grenzen im ersten Schritt wahrnehmen und
im zweiten Schritt schützen kann. Ob es sich selbst als sinnliches
Wesen wahrnehmen kann und sich daran freuen kann. Und ob es
Sexualität als natürlichen Teil einer lebendigen Liebesbeziehung
erfahren kann.
Was braucht ein Kind dafür um das zu lernen und die ihm angeborene Freude über seinen Körper und sinnliche Gefühle zu erhalten?
Unverzichtbar: Regelmäßige Berührungen und Körperkontakt!
Zuallererst: Menschen, die von Geburt an mit ihm in einer auch körperlich-sinnlichen Liebesbeziehung stehen. Und das in einer Weise, die in keiner Weise missbräuchlich, grenzüberschreitend und überfordernd ist!
Alle Menschen sind zutiefst sinnliche Wesen. Jeder von uns ist auf zärtliche Berührungen angewiesen. Enge Umarmungen, Streicheln, zärtliches Anschauen mit den Augen… Ich rede hier nicht von Sex. In unserer sexualisierten Gesellschaft ist es allerdings so, dass Menschen, die keinen Partner haben kaum Berührungen gibt – zumindest wenn man nicht gerade weiblicher Teenager ist, wo es halbwegs geduldet wird, dass sie zärtlich zueinander sind.
Die meisten von uns sind also körperlich ziemlich verhungert. Die Tatsache, dass Berührung meist nur im Zusammenhang mit Sex zu haben ist, sorgt dann für eine weitere seelische Deformierung, die gerade Frauen häufig in eine innere Hab-Acht-Stellung gehen lässt und manches Mal sogar jedwede Art von körperlicher Berührung ablehnen lässt. Ob der Hang zu sexualisiertem Druck oder gar Gewalt bei Männern eine Folge davon ist, dass Männer auf der einen Seite körperlich und emotional mangelernährt sind und ihnen gleichzeitig oft abtrainiert wird, empfindsam, bedürftig, kuschel- und schutzbedürftig zu sein, vermag ich nicht zu sagen – in meinem Kopf wäre das allerdings schlüssig.
Für Kinder gilt das Bedürfnis nach Berührung noch viel stärker als für uns Erwachsene. Zum einen ist Berührung, die Information über sich selbst, die sie über Berührung erfahren, ihre erste Sprache. Zusätzlich ist sie das wirkungsvollste Instrument zur Co-Regulierung, zum Trösten und Beruhigen, ja, auch zur Prophylaxe von Wutanfällen und Meltdowns in der Autonomiephase.
Kinder, die zu wenig liebevollen Körperkontakt bekommen, zeigen nachweislich mehr Verhaltensauffälligkeiten und sind ebenfalls anfälliger für Krankheiten jeder Art. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die Ursache der Magersucht ihren Ursprung darin haben könnte, dass diese Menschen in einer sensiblen Phase der Hirnreifung nicht ausreichend taktile Botschaften bekommen haben.
Ideale Bedingungen versus Alltagsrealität
Inwiefern
vernachlässigt aber ein „normaler“ Alltag kleine Kinder in
unserer Gesellschaft? Wenn ein Kind ab dem zweiten Geburtstag
wochentags von 9 bis 17 Uhr im Kindergarten ist? Wenn auf eine
Erzieherin zehn Kinder kommen? Wenn sie also schon rein rechnerisch
nicht jedes Kind ausreichend in den Arm nehmen kann? Hinzu kommt,
dass manche Kindergartenleitungen einen distanzierten Umgang mit den
ihnen anvertrauten Kindern empfehlen aus Angst vor
Mißbrauchsskandalen. Und selbst wenn das nicht vorliegt, entscheiden
sich einige Erzieher aus eigener Vorsicht dazu. Auch Tagesmütter
habe ich schon getroffen, die mir erzählt haben, dass sie ihnen
anvertraute Babys (!) nicht so viel kuscheln, damit die Eltern auf
die gute Bindung nicht eifersüchtig werden. Das mögen Ausnahmen
sein, aber ich glaube, dass in vielen Kindergärten schon der normale
Alltag weniger Körperkontakt zulässt als den Kindern gut tun würde.
Als der
Mißbrauchsverdacht gegen einen Mitarbeiter des Spielkonzeptes
„Original Play“ an die Öffentlichkeit kam, empörten sich viele
Eltern nicht nur über diese Mißbrauchsvorfälle (vollkommen zu
Recht), sondern auch gegen dieses Spielkonzept, das auf
ursprünglichem Spiel wie Toben und Umherzwälzen besteht. „So
etwas darf nur zu Hause stattfinden“ las ich oft in
Facebook-Gruppen.
Aber vom Kindergarten weg gedacht – FINDET denn zu Hause ausreichend Kuscheln und Toben statt? Ich gehe davon aus, dass meine Leser hauptsächlich bedürfnisorientierte Eltern aus dem „Attachment Parenting“-Bereich sind, das sie also grundsätzlich von Baby an schon einen körperbetonteren Umgang mit ihren Kindern hatten als der Mainstream. Und ich möchte hier wirklich niemanden anklagen, sondern nur unsere gängige Lebens-Art hinterfragen. In vielen Familien schlafen Kinder zwischen drei und sechs bereits in ihrem eigenen Zimmer. Morgens ist es vielfach stressig und es bleibt vor dem Kindergarten kaum Zeit zum Auftanken von Körperkontakt. Hier in Köln ist es eine vielgelebte Realität, dass Kinder erst zwischen 16 und 17 Uhr aus dem Kindergarten abgeholt werden. Drei bis vier Stunden später – oft nach einem Nachmittagsprogramm – werden die Kinder dann wieder ins Bett gebracht. Sicherlich werden viele Eltern ihre Kinder zwischendurch in den Arm nehmen. Aber REICHEN diese kurzen Fenster der Berührungen in einem durchgetakteten langen Alltag, in dem die Kinder durch “Funktionieren müssen” einem permanenten hohen Stress ausgesetzt sind?
Ich habe darauf
keine Antwort. Mein Gefühl ist allerdings so, dass es vielerorts
nicht reicht. Viele „Verhaltensauffälligkeiten“ von Kindern
beobachte ich als Schrei nach Liebe. Nicht nur intellektueller Liebe.
Sondern körperlicher Liebe. Anfassen, riechen, balgen.
Und in diesem
Artikel geht es ja dann auch noch im die Entwicklung der sexuellen
Gefühle. Bezeichnenderweise fällt in dieses Alter ja eben auch die
Zeit, in der unsere Kinder uns heiraten wollen, also tiefe
Liebesgefühle für ihre – meist gegengeschlechtlichen –
Elternteile haben.
“Mama, wenn ich groß bin, heirate ich dich!”
Die Art, wie diese
Liebesgefühle beantwortet werden, entscheidet mit darüber, welche
Gefühle zuallererst mit Liebe verbunden werden. Fühlen sich unsere
Kinder gesehen, angenommen und gewollt? Oder merken sie, dass ihre
Liebesbekundungen uns unangenehm sind? Fühlen sie sich abgelehnt in
ihrem Wunsch ihre Liebe auszudrücken?
In unserer
Gesellschaft kommt es ja relativ oft vor, dass Frauen Männer
hinterher rennen, die sich gar nicht für sie interessieren oder sie
gar schlecht behandeln. Ich glaube nicht an Monokausalität; jedoch
ist der „abwesende Vater“, den viele von uns als Kinder erlebt
haben, ganz klar eine Ursache dafür. Viel arbeitend oder vielleicht
irgendwann abgehauen. Nicht viel Zeit und nicht viel Lust zum
Spielen. Oft erst nach Hause kommend, wenn wir schon geschlafen
haben.
Jahrelang habe ich
mich an diesem Bild an meinen Partnern abgearbeitet.
Männer sehen in
ihren Partnerinnen oft ihre kontrollierenden Mutter. Die Gleichung
„Liebe gleich Kontrolle gleich Verlust der Freiheit“ scheint hier
öfter vorzukommen. Kaum ein Sketch in dem nicht das Klischee der
Männerrunde aufgenommen wird, in dem sich der Ehefrau
passiv-aggressiv verweigert wird und sich gegen sie verbündet wird,
als müsse man einer Kontrollinstanz entkommen.
(Wen das Thema interessiert, kann ich für den leichten Einstieg folgende Bücher empfehlen: „Schluss mit dem Beziehungskrampf“ von Michael Mary „Wenn Frauen zu sehr lieben“ von Robin Norwood “Sie sagt, er sagt” von Doris Kumbier)
Zusätzlich zu einer
innigen körperlichen Beziehung, scheint es sich also für Mütter zu
empfehlen Abstand von einem vereinnahmend-kontrollierenden Umgang zu
nehmen und für Männer wiederum das Arbeits- und Lebensmodell zu
überdenken, in dem sie leben und ausreichend verfügbar zu sein.
In dem Maße, in dem Rollenbilder sich immer mehr angleichen oder natürlich auch bei gleichgeschlechtlichen Elternpaaren, muss natürlich jeder Elternteil alle Aspekte bedenken.
Wie sieht es in unserer Familie aus?
Hilfestellungen für
Überlegungen können sein:
-> Wird in unserer Familie oft genug gekuschelt oder/und getobt? Wo ist in unserem Alltag Platz für Rückenkraulen, Massagen, Raufen, Spiele und Tänze in denen sich berührt wird? Was passt zu uns und was passt zu unserem Kind oder unseren Kindern?
-> Welche Erfahrungen habe ich selbst in meiner Kindheit gemacht? Gibt es etwas, was mich an einem sinnlich-körperlichen Umgang mit meinen Kindern hindert und was ich anpacken darf?
-> Wie viel positive, PROAKTIVE Aufmerksamkeit erfahren meine Kinder? Proaktiv heißt, ich nehme sie positiv wahr und Kontakt zu ihnen auf, BEVOR sie Kontakt zu mir aufnehmen oder mir gar zeigen, dass sie bereits im Mangel sind.
-> Wie verläuft die Zeit außerhalb von Fremdbetreuung in unserer Familie? Wie ist die Stimmung? Wie voll oder leer ist unser elterlicher Tank? Wie verläuft das Abendessen und das Zu-Bett-gehen in der Regel? Ist es mehrheitlich eine schöne Zeit oder ist es sich täglich wiederholender Stress?
-> Wie ist der Umgang und das Menschenbild der Erzieher oder Tageseltern, die mein Kind betreuen? Nehmen sie die Kinder in den Arm oder kuscheln regelmäßig „mit den Augen“? Haben sie einen wohlwollenden, vertrauenden Blick auf Kinder oder sind sie nur gestresst damit beschäftigt eine Katastrophe nach der anderen zu verhindern?
-> Wie reagieren wir auf Liebesbezeugungen unserer Kinder oder auch auf die Entdeckung ihres Körpers und ihre körperlichen Erfahrungen mit anderen Kindern?
-> Was haben wir selbst in unserer Kindheit erlebt? Wer war unsere erste große Liebe im Kindergarten oder in der Grundschule? Wie gestaltete sich die Liebesbeziehung zu unseren Eltern?
Das werden bestimmt
sehr spannende und emotionale Gespräche und ich wünsche Euch einen
klaren Blick, den Mut und die Liebe Unterschiedlichkeit auszuhalten
und dem eigenen Eltern-Sein ins Auge zu blicken!
Dieser wird verwendet, wenn ein Mensch den Glauben an seine Fähigkeit und auch sein Recht zur Gestaltung seines Lebens – oder Teilen davon – verloren hat. Obwohl ihm theoretisch wie jedem anderen Menschen auch viele Möglichkeiten offen stehen, sein Leben zu verändern und damit hoffentlich zu verbessern, kann er sie nicht ergreifen. Und ich rede wirklich von „Können“.
In Experimenten wurden der Boden eines Versuchskäfigs mit Hunden unter Strom gesetzt. Ein Teil der Hunde hatte die Möglichkeit sich über eine kleine Hürde in einen Bereich des Käfigs zu retten, in dem der Boden nicht unter Stromspannung stand. Dem anderen Teil der Hunde stand diese Möglichkeit nicht zur Verfügung. Sie waren gezwungen in dieser misslichen Situation auszuharren und sich mit dieser zu arrangieren.
Setzte man sie später in denjenigen Käfig, in dem es möglich war den Spannungsbereich durch einen Sprung über die Hürde zu verlassen, taten sie dies dennoch nicht. Sie versuchten genau GAR NICHTS um der Situation zu entkommen, sondern hatten bereits verinnerlicht, dass diese ausweglos war und sie einfach nur warten konnten, bis die peinigenden Stromstöße ein Ende nahmen. Sie blieben völlig passiv.
Genauso ist es mit domestizierten Tieren, die die Zügel als mächtiges und kontrollierendes Werkzeug erfahren haben. Selbst wenn sie nur an einem mickrigen Stuhl angeleint sind oder einem dünnen morschen Zaunpfahl, bleiben sie brav und angepasst stehen, obwohl es ihnen ein leichtes wäre sich loszureißen.
Immer schön in der Scheiße liegen bleiben, die man schon kennt
Weiter geht es mit dem dritten Teil der Serie “Wie Kinder emotional gesund groß werden”. Die fünf Punkte, die ich behandele, stammen allesamt aus dem absolut empfehlenswerten Buch von Dami Charf “Auch alte Wunden können heilen” .
Wenn ein Baby lernt sich fortzubewegen vergrößert sich sein Blickfeld und seine Perspektive immens. Ein Kind ist neugierig und möchte die Umgebung erforschen, die Spielregeln der Welt – erst physikalisch, dann sozial – kennenlernen. Es braucht Hilfe zur Selbsthilfe, um Ziele, die es sich selbst setzt, immer eigenständiger erreichen zu können.
Es lernt Gefühle zu benennen und auch Aktivitäten zu benennen, ohne diese sofort auszuführen. Es lernt Wörter mit Objekten zu verbinden. Es lernt seine Körperausscheidungen zu kontrollieren. Es lernt das Ursache-Wirkungs-Prinzip kennen. Und es lernt seine eigenen Gefühle kennen und dass die Gefühle anderer Menschen sich von seinen unterscheiden können.
Diese Phase dauert bis ins vierte Lebensjahr und überschneidet sich mit anderen Lernaufgaben.
Ab dem Zeitpunkt, an dem ein Kind zu krabbeln beginnt, verändert sich die Kommunikation der Bezugsperson. Ein Kind hört nun plötzlich sehr oft das Wort „Nein“. Es wird nun nicht mehr primär als „süß“ wahrgenommen, sondern immer mehr als eigenständiges Wesen, das allerdings immer noch auf sehr viel Hilfe und Unterstützung angewiesen ist. Die Sättigung dieser beiden konträren Pole verlangt den Eltern sehr viel Feingefühl und Reflexionsvermögen ab.
Es ist Urlaubszeit. Und in den Elternforen häufen sich die Threads von erschöpften Eltern, deren Kinder sich schlecht verhalten, den ganzen Tag meckern oder jammern. Gerade dauerhaft jammernden, ningelnden, nölenden und quengelnden Kinder scheinen ihre Eltern in den Wahnsinn zu treiben. Und das meine ich ganz wörtlich. Irgendetwas scheint dieser Tonfall an sich zu haben, dass wirklich etwas in Eltern ausklinkt. Ich kann das von mir auf jeden Fall so berichten und konnte mich immer sehr gut in Menschen einfühlen, die hier die Nerven verloren haben.
Erstaunlicherweise scheinen aber alle kleinen Kinder irgendwann (und auch mehrmals in den ersten Jahren) wochenlange Jammerphasen zu haben. Der eine mehr, der andere weniger ausgeprägt. Was hat es also damit auf sich?
Und warum möchte ich über das kindliche Jammern und den elterlichen Umgang damit direkt nach meinem Artikel über „Bedürfnisse und Sattsein“ schreiben? Wie hängt das miteinander zusammen?
Ich habe das selbst vor einigen Wochen sehr intensiv auf einem Re-Birthing-Seminar erlebt, in dem ich quasi noch einmal geboren wurde. Eine gigantische Erfahrung. Und ich weiß nun, dass jede geburtshilfliche Intervention, auch wenn sie letzten Endes bedeutet, dass das Kind nicht stirbt, ein massiver Eingriff ist und wirklich gut überlegt sein will. Und im besten Falle auch an das Kind kommuniziert.
Die nächste Entwicklungserfahrung, die ein Baby macht, ist, wie mit seinen Bedürfnissen umgegangen wird. Und ob es wirklich SATT ist – im körperlichen und erst recht im emotionalen Sinn.
Häufig liest man, das wir in einer „Überfluss-Gesellschaft“ leben. Und das stimmt auch, zumindest in materieller Hinsicht. Was jedoch emotionale und körperliche Belange angeht, sind wir eine Mangel-Gesellschaft. Absolut. Und all der materielle Überfluss ist nur ein Weg diesen inneren Mangel zu kompensieren. Wir haben NIE GENUG. Wir SIND nie genug. Wir sind unverbunden mit uns selbst und geben das an unsere Kinder weiter. Natürlich, denn diese gucken sich von uns ab, wie man lebt und wie man mit sich selbst umgeht.
Gerade, wenn die Bedürfnisse der Eltern in ihrer Kindheit selbst nicht erfüllt wurden, entwickeln sie eine Art ihre Bedürftigkeit einzufordern, die sehr wenig erwachsen ist und die einem kleinen Selbst nicht dabei hilft, sein eigenes Ich auszubilden. So können viele Erwachsene nicht damit umgehen, wenn Kinder ihren eigenen Willen haben, weil sie sich davon bedroht fühlen, vielleicht sogar das Gefühl haben, sie würden ihr Kind dadurch verlieren.
Fakt ist für uns Erwachsene: Kein anderer Mensch ist für die Erfüllung unserer Bedürfnisse zuständig. Erst recht kein kleiner Mensch. Stattdessen sind wir als Erwachsene für die Erfüllung der Bedürfnisse unserer Kinder zuständig, damit diese möglichst SATT ins Leben gehen können und weniger emotional mangel-ernährt sind, wie wir das vielleicht sind.
Neugeborene kommen als hoch empfindsame Wesen auf die Welt. Ihre Reise durch den Geburtskanal ist oft stressig und bedrohlich; je nach Verlauf sogar traumatisch. Die neue Umgebung ist in so gut wie jeder Hinsicht anders als alles bisher Erlebte. Im Mutterbauch war es warm, die kleine Welt war sehr überschaubar und von allen Seiten begrenzt, das Baby fühlte sich im Fruchtwasser leicht und tänzerisch. Um es herum rauschten die Blutbahnen pulsierend und rhythmisch. Zusammen mit den Geräuschen des Magen, des Darmes und teilweise der Stimme seiner Mutter lebte der Säugling Tag und Nacht in einer durchgehenden Lautstärkeumgebung von 70 bis 80 Dezibel. Durch diese Wand an Geräuschen klangen andere Klänge aus dem „Außen“ – die Stimmen anderer Familienmitglieder, Straßenlärm, Musik. Immer wenn sich die Mutter bewegte, wurde die kleine Welt des Säuglings ebenfalls in Bewegung gesetzt. Eng zusammengerollt schwang der Säugling mit jeder Bewegung seiner Mutter mit.
Im besten aller Fälle hat dein Baby in der Schwangerschaft immer wieder deine Freude und Liebe gespürt.
Aber als dein Baby auf die Welt gekommen ist, war ALLES anders.
Entwicklungsschritte verstehen um emotionale Verletzungen zu vermeiden
Teil 1 – Sicherheit und Willkommensein
Aufgrund meiner eigenen Lebensgeschichte beschäftige ich mich immer wieder mit den Folgen meiner Entwicklungstraumata, die ich auch heute immer wieder schmerzend und begrenzend spüre – ob in engen Bindungen, bei starken Stress oder in Konflikten.
Im Gegensatz zu einem Schocktrauma, das ein einmaliges schreckliches Ereignis meint, welches unser Leben völlig umwirft, ist ein Entwicklungstrauma ein sich ständig wiederholendes Reaktionsmuster auf kindliches Verhalten. Wenn Eltern beispielsweise mit dem Weinen ihres Kindes nicht umgehen können und sich über es lustig machen. Wenn sie ein Kind mit seinen starken Gefühlen alleine lassen oder es sogar noch bestrafen (– wobei Ignorieren bereits eine Strafe IST). Wenn sie kindliche Ängste verniedlichen und nicht ernst nehmen. Wenn sie Autonomiebestrebungen unterdrücken. Wenn Kinder angeschrien oder gar geschlagen werden… Die Liste ist unendlich.
Einmal passiert und hinterher besprochen verursacht hierbei keinen großen Schaden, aber ständig wiederholende Interaktionen beeinflussen das Selbstbild eines Kindes nachhaltig. Vor allem die ersten drei Jahre sind hier ausschlaggebend, denn hier wird quasi das Fundament für den Selbstwert und die Wahrnehmung der Umgebung gelegt.
Wiederholte Verletzungen verändern das Selbstbild (und das Weltbild)
Ist die Welt ein freundlicher Ort, in dem ich willkommen bin? Oder ist sie bedrohlich und ich muss selbst um elementarste Dinge kämpfen? Erhalte ich das Gefühl richtig zu sein wie ich bin oder fühle ich mich ständig falsch und unerwünscht?
All das sind Fragen, die für kleine Kinder elementar sind und ihre ganze Weltsicht prägt. In der Psychologie wird das „Priming“ genannt. Wie eine gefärbte Brille, die wir in dieser Zeit aufgesetzt bekommen und die beeinflusst, wie wir die Welt wahrnehmen. Ist sie sonnengelb oder pechschwarz?
Abschied nehmen fällt vielen Menschen schwer. Die kleineren Alltags-Abschiede kriege ich ganz gut hin, aber seitdem ich Mutter bin geht auch in diesen Fällen wieder öfter mein innerer „Bindungs-Alarm“ an. Und größere Abschiede sind für mich bis heute nicht drin. Ein paar Monate oder gar ein Jahr ins Ausland zu gehen kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.
Ebenso eine große Herausforderung ist es für viele Menschen Altbekanntes zu verlassen und sich an neue Umgebungen, Menschen und Bedingungen zu gewöhnen.
Wie viele Menschen bleiben beispielsweise in einem Job, der ihnen nicht gefällt und guttut oder in einer Beziehung, in der sie nicht geliebt werden oder nicht lieben?
Das ist das „Lieber-in-der-Scheiße-liegen-die-man-schon-kennt“-Phänomen. Und hat ganz viel mit fehlendem Vertrauen und Zutrauen in sich selbst und seine Umwelt zu tun.
Und Fakt ist: Jeder von uns hat seine Bindungs- und Trennungserfahrungen gemacht und sich daraus etwas gezimmert.
Nun sind wir Eltern und versuchen einen Weg zu finden unsere eigenen Kinder bei ihren Bindungs- und Trennungserfahrungen zu begleiten. Vielleicht ist es gerade in der Eingewöhnung in den Kindergarten oder bei der Tagesmutter? Oder dein Kind hat gerade eine Phase, wo es sich an dich klammert und du keinen Schritt alleine machen kannst. Vielleicht ist es gerade in die Schule gekommen. Vielleicht steht die erste Übernachtung bei den Großeltern an.
Wie auch immer – unsere Kinder bei ihren Trennungen und Abschieden zu begleiten, berührt unsere alten Trennungserfahrungen maßlos. Wenn die Trennung dann noch durch unsere Absicht erfolgt, dann entsteht ganz schnell ein Gefühlsdreieck aus dem Schmerz des Kindes, den berührten alten Erfahrungen der Erwachsenen und der aktuell gefühlten Schuld, weil man dem Kind das zumutet.
Wenn man Eltern wird, und zum ersten Mal sein Baby im Arm hält, fühlen sich viele Menschen plötzlich sehr verunsichert. Viele Menschen haben zwar schon mal andere Babys im Arm gehalten, aber eben nur kurz oder erst, wenn sie deutlich älter waren. Und tatsächlich gibt es auch immer häufiger Eltern, wo einer oder beide Teile erzählen, dass sie eigentlich in ihrem bisherigen Leben gar nichts mit Babys zu tun hatten. Das ist die eine Zielgruppe meines Beitrags.
Mich beschäftigt aber nicht nur, wie man Neugeborene IRGENDWIE hochheben, tragen oder wickeln kann.
Wer viel mit frisch geborenen Kindern zu tun hat, weiß, dass diese meist höchst irritabel sind. Sie liegen zufrieden auf Mamas Brust im Hautkontakt, aber eine kleine Berührung von außen bringt sie aus dem emotionalen Gleichgewicht, erschreckt sie. Noch schlimmer wird es, wenn man sie in einer Weise aufnimmt oder ablegt, die den sogenannten Moro-Reflex auslöst. Das ist ein Anklammerungs-Reflex – ein Schutzreflex, der immer auch mit einem Adrenalinstoß einhergeht. Mir ist es also wichtig, ein Baby in einer Art und Weise zu berühren, die es nachvollziehen kann und die keine Schutz-Reflexe auslöst. Zudem ist es mir wichtig, dass das Aufheben, Ablegen und auch das Herumgetragen werden angenehm für ein Baby ist.
Menschen, die hier auch gerne dazu lernen möchten, sind die andere Zielgruppe meines Beitrages.
Die Eltern der kleinen Finja haben mir erlaubt mit ihrem Baby mehrere Videos zu drehen, um verschiedene Aspekte des Umgangs mit einem Neugeborenen zeigen zu können. Vielen Dank dafür!
Mein Baby-Handling birgt Elemente aus dem physiotherapeutischen Bobath-Konzept und dem Kinaestetics Infant Handling.
“Das Kind muss sich selbst Be-Greifen können” war ein geflügelter Satz der Praxisanleiterin Martina Schulte in meiner Ausbildung zur Kinderkrankenschwester an der Uni-Kinderklinik Bonn. Wenn sie die Frühgeborenen versorgt hat, war alles ganz behutsam, sanft und achtsam. Die Babys haben selten geweint und wenn wurden sie gehört und beachtet. Ihre Arbeit hat maßgeblich mein Interesse an achtsamer Pflege von Früh- und Neugeborenen beeinflusst.