Wow, ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass der gestrige Beitrag von mir der bisher meist Gelesene und Geteilte werden würde. Ich schwanke gefühlsmäßig zwischen Freude und Trauer, weil das heißt, dass ich einen Nerv getroffen habe und vielen anderen auch nicht in dieser Prägnanz klar war, wie Bindung bei Kleinkindern entsteht.
Natürlich kennen viele Eltern den Vorwurf an Mütter, die „nicht loslassen“ können und es damit dem Kind schwer machen, aber dieser ist meist an die Forderung gekoppelt, das Kind weinend zurückzulassen und die Erzieher ihre Arbeit machen zu lassen.
Eine Leserin reagierte irritiert auf den massiven Beifall, den mein Artikel erhielt, weil dies doch selbstverständlich sein sollte. Die vielen Reaktionen zeigen mir jedoch, dass es das nach wie vor nicht ist.
Eine andere Leserin verstand mich so, als ob das artgerecht-Projekt Fremdbetreuung im Kindergarten befürworte – auch bei Kindern unter 3 Jahren. Sie fragte, ob das zu verantworten sei, mit dem hohen Krankheitsstand, der Personalfluktuation und der Tatsache, dass die Kinder ja eh nur eine begrenzte Zeit im Kindergarten bleiben, bevor sie in die Schule wechseln. Jemand, den man in den Clan aufgenommen habe, würde man ja nicht von einem auf den anderen Tag aus diesem verstoßen.
Eigentlich wollte ich mir ja heute einen Tag Pause gönnen, aber hierzu möchte ich doch Stellung beziehen.
Zum einen möchte ich ganz klar sagen, dass ich natürlich nur einen Bruchteil des Ausbildungsinhaltes hier wieder gegeben habe. Nämlich die sachliche Information, wie bei kleinen Kindern Bindung im Sinne von Beziehung zu „neuen Clan-Mitgliedern“ entstehen kann. Dazu habe ich meine persönlichen Gedanken zur Eingewöhnung in Kindergärten geäußert.
Der „Kern-Clan“ und seine Untergruppen
Jetzt hat der Mensch die Fähigkeit neben seinem „Kern-Clan“ (Eltern, Geschwister) mehrere „Unter-Clans“ zu bilden. Dazu gehört die erweiterte Familie (Großeltern, Tanten, Onkel…) und was sich im Leben noch ergibt. Zum Beispiel der „Nachbar-Clan“, der „Kindergarten-Clan“, der „Schul-Clan“, später vielleicht der „Uni-Clan“ oder der „Arbeits-Clan“. Natürlich sollen diese anderen Clans niemals (oder erst zu einem späteren Zeitpunkt im Leben eines Menschen) den „Kern-Clan“ ersetzen. Somit haben die entstandenen Beziehung also unterschiedliche Gewichtungen, gleichwohl natürlich – wie wir alle selbst anhand unserer Freundschaften wissen – die entstandenen emotionalen Verbindungen sehr tief sein können.
Zusätzlich ist in Naturvölkern zu beobachten, die noch relativ ursprünglich in Clans zusammen leben, dass Kinder sich, nachdem sie abgestillt werden (das beobachtete Abstillalter liegt zwischen ungefähr zwischen drei und fünf Jahren) , in heterogenen Kindergruppen, von ihren Eltern bzw. den Bezugspersonen fort bewegen. Vorher besteht zwar Kontakt zu anderen Kindern; offensichtlich ist aber eine Entfernung vom Clan hier nicht vorgesehen (und natürlich auch – je nach Umgebung – sehr gefährlich).
Unterschiedliche Umgebungen erfordern unterschiedliche Lösungen
Zudem ist die Alltagsgestaltung natürlich sehr stark von der Umgebung abhängig. Bei den !Kung! in der Wüste war es heiß; die Ernährung war knapp. Es mussten weite Strecken zurückgelegt werden, um sich zu versorgen. Jede Frau hatte gerade genug Milch für ihr eigenes Kind. Das Kind sollte früh alleine laufen; hierzu wurde schon früh die Bein-Muskulatur der Babys abends am Lagerfeuer gestärkt. In der Regel konnten diese Kinder mit neun Monaten frei laufen. Sich weiter von der Mutter zu entfernen, war aber nicht möglich, denn nur diese hatte die Milch. Und bei 50° C im Schatten wäre es wohl keine so kluge Idee gewesen, sich weiter von seiner Flüssigkeitsquelle zu entfernen.
Bei Dschungelvölkern war es anders. Hinter jedem Blatt konnte Gefahr lauern (gefährliche Spinnen, Schlangen usw.). Die Kinder werden also möglichst lange getragen. Wasser hingegen ist kein Problem, so dass die Kinder häufig von allen Clan-Frauen gestillt und getragen werden. Hier zeigen sich ja schon ganz unterschiedliche Bindungsmuster in der Säuglings- und Kleinkindzeit.
Das Kind orientiert sich an dem, was es vorfindet. Ein Pleistozän-Baby, das irgendwie ins JETZT käme, könnte sich problemlos hier anpassen (so wird vermutet – wirklich beweisen lässt sich das ja nur bedingt).
Positive Bindungserfahrungen brauchen Zuverlässigkeit und Konsistenz
Mit Sicherheit lässt sich festhalten, dass es für die Qualität der Bindung mehr als förderlich ist, wenn das Beziehungsangebot konstant und zuverlässig ist. Wenn ein Kind sichere Bindungen in einem Kindergarten aufgebaut hat und eine Erzieherin krank wird, ist das vielleicht zu verkraften. Passiert das in der Eingewöhnung und/oder ist das die Regel, ist das ein bindungstechnischer Genickbruch. Denn die Bindung erfolgt ja nicht an das „Gebäude Kindergarten“, sondern an die Menschen in ihm. Auch spielt natürlich die Bindung zu den Eltern als Ausgangspunkt eine große Rolle: Ist die Bindung hier gefestigt und sicher? Unsicher? Ambivalent?
Und ebenso wichtig ist die Frage danach, wie viele beziehungsbereite Erwachsene auf ein Kind kommen, also im KiTa-Slang der “Betreuungsschlüssel”. Zwei U3-Kinder auf einen Erwachsenen findet man noch in Naturvölkern. Sieben definitiv nicht. Neben der Verfügbarkeit der Erwachsenen spielen ältere Kinder eine große Rolle. Wie wir in den letzten Tagen bei der Ausbildung selbst beobachten durften, können selbst 5-Jährige kleine Kinder großartig betüddeln und mit ihnen spielen. Natürlich wird auch dieses Art des “Baby-Sittings” in vielen Kulturen schon immer gerne angenommen. 🙂
Und selbstverständlich dürfen wir uns die Frage stellen, ob es für ein gerade Zweijähriges Kind gut sein kann, in einer Gruppe von zwanzig 2- bis 6-Jährigen Kinder mit zwei Erziehern zu sein.
Aber noch einmal einen Schritt zurück.
Das artgerecht-Projekt gibt natürlich keine Empfehlung aus, ob und in welcher Weise Kinder fremdzubetreuen sind.
Wozu bildet das artgerecht-Projekt seine Coaches aus?
Wir werden zu Beratern ausgebildet und eine gute Beraterin sagt Eltern niemals, was Richtig oder Falsch ist, weil es Richtig und Falsch schlicht und ergreifend in den meisten Fällen nicht gibt. Es gibt große Familien und kleine Familien, reiche und arme Familien, gesunde und kranke Familien. Es gibt verschiedenste Clan-Erweiterungsformen von Nachbarn, über Großeltern, Babysitter, Nannys, Tagesmütter bis hin zu institutionellen Kindergärten.
Eine gute Beratung bewertet nicht. Sie findet heraus, wie es den einzelnen Familienmitgliedern geht, was die aktuellen Baustellen sind und was die verschiedenen Familienmitglieder brauchen könnten, damit es ihnen gut geht. Hierbei kann es sowohl okay sein, einer Mutter mit Burn-Out zu sagen, dass es – unter guten Bedingungen – in Ordnung ist, ihr Kind für einige Stunden jemand anderem anzuvertrauen. Ebenso kann es vorkommen, dass ein Kind kreuzunglücklich in der Betreuung ist und dass ein Gespräch vielleicht in die Richtung geht, wie man das Kind entlasten kann. Welche Unterstützung die Eltern aktivieren können, um ihr Kind eventuell für einige Zeit Zuhause lassen zu können.
Es ist die Aufgabe von artgerecht-Coaches, den Eltern Informationen zu geben und ihre Ressourcen zu stärken, so dass sie informierte Entscheidungen treffen können, bei denen sie liebevoll die Bedürfnisse der Kinder und ihre eigenen im Blick haben. Es ist nicht die Aufgabe den Eltern zu sagen, dass nur Langzeitstillen bis mindestens vier Jahren und am besten keine Fremdbetreuung bis zum Schulalter „artgerecht“ wäre. „artgerecht“ ist – wie oben ausgeführt – einfach nicht so leicht zu definieren, weil unsere Spezies sehr unterschiedlich lebt und extremst anpassungsfähig ist.
Sind Clan-Veränderungen per se negativ?
Ich persönlich finde es nicht schlimm, wenn sich ein Clan immer wieder verändert, denn das passiert natürlicherweise immer wieder – bei Groß und bei Klein. Interessen verändern sich. Freundschaften verändern sich. Lebensorte verändern sich.
Voraussetzung ist, dass der Abschied gut vorbereitet und begleitet wird. Unter diesen Bedingungen finde ICH den Übertritt von Kindergarten auf Schule nicht problematisch. Ich traue den Kindern das zu. Vor allem, wenn es so ist, wie in der Einrichtung meines Sohnes, wo die frisch eingeschulten Kinder nach der Schule im Kindergarten (der direkt nebenan ist) immer herzlich willkommen sind und sie nachmittags oder in den Ferien dort sein können. Daraus entstehen dann auch die heterogenen Kindergruppen, denn die Kleinen himmeln die Großen natürlich an. Und so wird der Clan zwar wieder erweitert, aber die Verbindung zum „Kindergarten-Clan“ muss nicht abreißen.
Auch gab es bei uns einen Ordner mit Fotos, Berichten, den gesungenen Liedern und so weiter, den sich mein Sohn selbst nach drei Jahren noch regelmäßig anschaut und sich an den Erinnerungen freut. Der kommende Abschied wurde schon das ganze Kindergartenjahr zelebriert – die Kinder waren ja nun Vorschulkinder, die regelmäßig ihr eigenes Programm, eigene Ausflüge und ihre eigene Kindergartenfreizeit hatten, wo sie drei Tage wegfuhren. Mein Sohn ist innerlich gewachsen, vor allem im letzten halben Jahr bevor die Schule begann. Und am Ende gab es eine große Feier, wo jedes Kind eine ganz persönliche Botschaft für seinen weiteren Lebensweg mitbekommen hat.
Jedem Neuanfang geht ein Abschied voran
Abschiede gibt es immer wieder. Oft begegnet man diesen mit gemischten Gefühlen. Wenn ich beispielsweise eine Freundin in einer anderen Stadt besuche, bin ich traurig, wenn ich von ihr wegfahre, weil ich gerne noch mehr Zeit mit ihr hätte. Gleichzeitig freue ich mich auf mein Zuhause.
Gerade wir Kölner kennen diesen Zwiespalt, denn wir wachsen mit dem kölschen Evergreen „Niemals geht man so ganz“ von der großartigen Trude Herr auf und können den Text oft schon als Kinder auswendig mitsingen. 😉
Für mich besteht hier also kein grundsätzlicher Konflikt zwischen institutioneller Fremdbetreuung und artgerecht. Sicherlich hängt das aber davon ab, was für ein Kind man hat und welche Bindungserfahrungen die Eltern selbst gemacht haben, welche Entscheidungen hier getroffen werden. Und natürlich – nicht zuletzt – von der Einrichtung, die man auswählt und der Zeit, die das Kind dort verbringt.
Kinder können – mit liebevoller Begleitung – viele Herausforderungen meistern
Ich persönlich halte es für gleichermaßen verheerend, ein Kind in ein System zu zwingen, ohne auf seine Signale zu achten, wie es vor allem bewahren zu wollen und ihm nicht zuzutrauen, Situationen wie Konflikte, unterschiedliche Regeln oder in diesem Fall Abschiede mit liebevoller emotionaler Unterstützung zu meistern. Aber dies entspricht nur meiner persönlichen Meinung.
Ein bisschen ketzerisch könnte man ja sagen, dass artgerecht alles ist, was unsere Spezies nicht kaputt macht und langfristig ausrottet. Selbst der zweite Weltkrieg, die rigiden Erziehungsregeln, die emotionale Vernachlässigung, die Kinderlandverschickungen und all das Grauen, haben das nicht geschafft. Das klingt natürlich hart, aber evolutionär gesehen, ist ein „Ausreichend“ bei Eltern tatsächlich ausreichend.
Deswegen finde ich vielleicht zielführender zu fragen:
Was braucht es, damit es allen gut geht?
Und wenn Mutter A bei dem Gedanken vor die Hunde geht, ihr Kind wegzugeben und Mutter B vor die Hunde geht, wenn sie sich vorstellt, einige Jahre ihre geliebte Arbeit nicht ausführen zu können und Mutter C alleine mit Kind ist und nicht von Hartz IV leben, von der Arge zu Vollzeit-Jobs gedrängt werden möchte und deshalb einen Teilzeitjob annimmt und ihr Kind in den Kindergarten gibt, wenn Kind A sich schon mit 14 Monaten zuhause langweilt und aufblüht, sobald es andere Kinder sieht und Kind B mit fünf noch am liebsten nur bei der Mutter sein möchte und nur zögerlich neue Bindungen eingeht und Kind C zuhause eh schon unfassbar viele Nachbarskinder und Geschwister hat, mit dem es spielen kann, während Kind D weit und breit kein Kind in der Nähe hat und den ganzen Tag mit der Mutter spielen möchte, dann sieht die Antwort auf diese Frage ganz unterschiedlich aus.
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2 Comments
Jana - unerzogen betreut
Das hast du sehr gut nochmal ausgeführt: die Individualität steht im Vordergrund. Natürlich sind wir Menschen für bestimmte Dinge/Umstände/Voraussetzungen besonders gut vorbereitet, aber andererseits sind wir auch extrem flexibel und unterschiedlich.
Was du zu dem Zutrauen in die Kinder und damit ins Leben sagst, gefällt mir auch. Ein Stück Optimismus im Sinne von “et hätt noch immer jot jejange” bringt der Rheinländer doch auch mit 😉
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