Erster Teil:
„Strategien, die nicht beziehungsfördernd sind und warum viele Eltern so unter Druck geraten“

Das da oben bin ich. Auch wenn dies mit Sicherheit nicht die Hochphase eines Wutanfalls oder von Verzweiflung gewesen sein wird, so lese ich doch deutlich Ärger und Empörung aus meinem Gesichtsausdruck heraus. Und ich frage mich: Was in aller Welt hat meine Eltern dazu gebracht, in diesem Moment den Fotoapparat zu holen (damals hatte man noch nicht immer griffbereit das Smartphone mit integrierter Kamera in der Tasche) und mich zu fotografieren?

 

„Du siehst so süß aus, wenn du wütend bist!“

Ein Satz, den ich bis heute hasse und der mir aber dennoch auch im Erwachsenenleben (selbst im Berufsalltag) begegnet ist. Wenn ich ihn höre, weiß ich, dass ich meistens in meinem Anliegen nicht ernst genommen werde, ja, dass mir oft gar nicht zugehört wird.
Um auf die Frage oben zurückzukommen: Der Impuls, den Fotoapparat zu holen und sein Kind zu fotografieren, wenn es gerade sauer ist, ist der unbewusste Versuch, eine Distanz herzustellen. Es ist das komplette Gegenteil davon, sich mit dem Kind in seinem Schmerz zu verbinden, sich ihm in seiner ganzen Präsenz hinzuwenden. Denn stellen Sie sich eine vergleichbare Situation mal kurz mit Ihrem Partner vor: Sie sind unglaublich wütend und Ihr Partner sagt zu Ihnen: „Ich höre dir gleich zu, Schatz, aber erst möchte ich dich fotografieren. Du bist so süß, wenn du dich aufregst!“ Können Sie sich vorstellen, was Sie in diesem Moment empfinden würden?

 

Langanhaltendes Weinen und Schreien unserer Kinder löst bei vielen Eltern starke negative Gefühle aus

Die meisten von uns sind mit der Botschaft aufgewachsen, dass Weinen und Wütend sein etwas Schlechtes sind oder vielleicht sogar noch krasser, dass WIR schlecht sind, wenn wir weinen oder wütend sind.
Sätze wie „Das ist doch kein Grund so rum zu heulen“, „Du kriegst gleich einen Grund zum Weinen“, „Hör’ mit der Schreierei auf und sag vernünftig, was du möchtest“ oder „Geh auf dein Zimmer, bis du dich beruhigt hast“, haben tiefe Spuren in uns hinterlassen.
Viele Menschen können sich ihren eigenen Ärger nicht zugestehen und haben Probleme damit, sich selbst mit ihren Bedürfnissen und Grenzen zu zeigen. Um so mehr kann es einen dann in die Bredouille bringen, wenn unsere Kinder ihre Forderungen und Wünsche ganz freimütig und unverblümt äußern. Das Verhalten des Kindes wird als „unverschämt“ oder doch zumindest als „unangebracht“ empfunden. Und auch die Angst vor dem „kindlichen Tyrannen“ kommt dann gerne in einem hoch.
Das Spiel „Wer gibt nach?“ beginnt. Ein „Spiel“, in dem es zwingend immer einen Verlierer und einen Gewinner geben muss.

 

Wozu fordert Weinen uns auf?

Dies wiederum ist Folge von dem häufigen Missverständnis, dass ein geäußertes Gefühl des Kindes von uns fordert, dass wir „sofort springen“ oder dass es elterliche Aufgabe wäre, zu verhindern, dass das Kind Schmerz oder Wut fühlt. Das erzeugt einen enormen Druck und kann es schwierig machen, sich seinem Kind wirklich zuzuwenden, es zu SEHEN. Die innerliche Frage lautet dann nicht mehr: „Was fühlt mein Kind? Was braucht es?“ sondern eher „Ey, das ist unangenehm. Ich will das nicht. Es soll aufhören!“

Das Kind soll aufhören zu schreien oder zu weinen.

Um das zu erreichen, wenden Eltern verschiedenste Techniken an. Ich greife mal ein paar heraus:
* Ironie und sich darüber lustig machen
* das Kind auffordern, mit dem Weinen aufzuhören und „vernünftig“ zu reden
* das Kind isolieren oder in anderer Form bestrafen
* Bestechung („Wenn du jetzt ruhig bist, kauf ich dir ein Eis“)
* zu versuchen, das Kind mit Erklärungen zu einer Zustimmung zu manipulieren…äh… beruhigen
* ablenken

 

Was würde Ihnen helfen?

Wenn Sie selbst wütend oder verzweifelt sind, würde eine dieser Strategien ihnen helfen, sich besser zu fühlen? Was wünschen Sie sich selbst, wenn Sie völlig außer sich sind und nicht mehr klar denken wollen? Vielleicht eine oder mehrere Dinge aus folgender Liste?
Jemand setzt sich zu Ihnen und schaut Sie aufmerksam an. Jemand hört Ihnen zu. Fragt nach, bis er alles verstanden hat. Lässt Ihnen Ihre Wahrheit, die Sie in diesem Moment haben. Nimmt Sie in den Arm.
Na, war etwas dabei, was Ihnen gut täte?


Kinder sind nicht anders als wir Großen

Sie wollen „einfach“ in ihrem Schmerz, ihrer Wut, ihrer Trauer, ihrem Nicht-Wollen und motzig sein gesehen, angenommen und lieb gehabt werden. Sie wollen nicht, dass Eltern sich für sein Wollen aufgeben, dass es ihnen schlecht geht oder irgendetwas anderes. Sie wollen ganz in Kontakt mit ihrem Gegenüber sein. Sie wollen ein Gegenüber, dass sich zeigt, so wie er einfach IST. Und sie möchten so sein, wie sie sind, ohne bewertet oder gar abgewertet zu werden.

Warum können dennoch so viele Menschen Kinder nicht in ihrer Wut und Trauer begleiten?

 

Ständiges schlechtes Gewissen

Vielleicht geht es Ihnen ja so wie mir: Ich bin nicht sonderlich gut darin, ich selbst zu sein. Ich gestehe es mir schlicht und ergreifend nicht zu, habe oft einen Perfektionswahn, gerate in den säuselnden „Mutti-Modus“, fühle mich persönlich angegriffen, wenn mein Kind mir nicht zuhört, habe immer wieder das Gefühl, kein Recht zu haben, für mich zu sorgen oder das Gefühl, dass ich alle Tränen und alle Wut von meinem Sohn fernhalten muss und dafür verantwortlich zu sein, dass er ja zu allen Zeiten glücklich und zufrieden ist, dass es zwischen uns immer harmonisch abläuft. Das baut Druck auf in mir.

 

Zukunftsangst

Ebenso, dass ich immer wieder Angst davor habe, dass mein Kind XY dann in der Zukunft „immer“ will oder „nie“ lernen wird. „Immer/Nie“-Gedanken sind immer ein ganz guter Indikator dafür, dass wir die gegenwärtige Situation gedanklich völlig verlassen haben. Ziehen Sie im Sommer Mantel, Mütze, Schal und Handschuhe an, weil es im Winter kalt wird? Stehen Sie morgens gar nicht erst auf, weil sie abends aller Wahrscheinlichkeit nach müde werden?

Es geht nicht um eine vergleichbare Situation in einigen Monaten.

 

Es geht genau um diese Situation. Jetzt. Hier. Mit meinem Kind.

Wie es ihm gerade geht. Mir. Wie es mir gerade geht. Beides wahrzunehmen. Eine Lösung zu finden, die uns beiden gerecht wird – so wie wir gerade sind und so, wie es uns gerade geht. Eine Lösung, die gut für unsere Beziehung ist und uns wachsen lässt – jeden für sich und aneinander.

 

Kinder haben uns Großen etwas Voraus

Sie können das nämlich NOCH, was wir bereits verlernt haben – ganz sie selbst sein. Für sich einstehen. Psychohygiene durch viel Tränenvergießen betreiben.
Wie bitte? Psycho-Hygiene? Genau. Mit Tränen werden nämlich angestaute Stresshormone aus unserem Körper gespült und vermutlich gibt es bei Kindern deshalb auch oft die Kleinigkeiten, bei denen das Fass plötzlich und für uns Große unverständlicherweise völlig überläuft – im wahrsten Sinne des Wortes. Schneiden wir Zwiebeln und unsere Augen tränen, lassen sich in dieser Tränenflüssigkeit keine Stresshormone finden. Verrückt, oder?

 

Ja, aber Kinder brüllen und weinen doch auch absichtlich, um uns zu manipulieren.

Ja, das gibt es. Aber sind die Kinder daran „Schuld“ oder die Eltern, die ihren Kindern das beigebracht haben? Kinder, die zu solchen Mitteln greifen haben nämlich folgende Dinge gelernt:
Sie können auf keine andere Art und Weise bekommen, was sie möchten.
Wenn sie lange und laut genug schreien, bekommen sie das, was sie möchten oder zumindest einen Ersatz.
Das Kind erlebt zwar Macht, wenn es seine Eltern derart in Panik versetzen kann, dass Weinen als Druckmittel funktioniert. Gleichzeitig Hilflosigkeit und Überforderung. Eltern werden von Kindern immer als enorm mächtig erlebt. Wenn nun die Eltern nicht mit diesen starken Gefühlen umgehen können, was heißt das dann? – Dass man ganz mit ihnen alleine ist.
Die Eltern werden als nicht stark und schutzgebend erlebt, im Sinne von „fähig mir und meinen Gefühlen zu begegnen“. Dies ist Ursache für eine große kindliche Einsamkeit und führt aller Wahrscheinlichkeit nach zu noch mehr Wutanfällen. Ja, und auch dazu, dass ein Kind diese Strategie weiter anwenden wird. Denn es kennt ja keine andere.

Aber ich glaube, dass die meisten Kinder nicht „absichtlich“ weinen, um jemanden zu manipulieren. Wir FÜHLEN uns manipuliert, weil wir nicht aushalten, dass unser Kind so herzzerreißend weint, das ja. Aber dies ist nicht die Absicht unseres Kindes.
Wenn ich mich mit mir selbst als Kind verbinde, dann sehe ich ganz deutlich, wie ich in Not war, wenn ich meine Eltern angeschrien habe, dass ich wirklich nicht anders konnte und quasi um Hilfe gebeten habe, mit diesen krassen Emotionen umgehen zu können, die mich da völlig weggeschwemmt haben.

Wie kann man Trauer und Wutanfällen nun hilfreich und beziehungsfördernd begegnen?
Davon wird der nächste Artikel handeln.

Und was mache ich mit meiner eigenen Wut?

Gibt es absichtliche Wutanfälle und – wenn ja – wie gehe ich mit ihnen um? Das habe ich hier beantwortet.


Natascha Makoschey
Natascha Makoschey (33) hat einen 8-jährigen Sohn und arbeitet als Kinderkrankenschwester in der Geburtshilfe.
Wenn sie nicht gerade liest oder das Sams vorliest, zwangsweise Uno spielt, dann quatscht, strickt oder singt sie.

 

 

 

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    Natascha Makoschey (Baujahr 1983) hat einen 9-jährigen Sohn und arbeitet als Kinderkrankenschwester in der Geburtshilfe. Wenn sie nicht gerade Bücher liest, zwangsweise Uno spielt oder darüber nachdenken muss, welchen Pokémon sie am liebsten mag, dann quatscht, strickt oder singt sie.