Neulich hörte ich im Schwimmbad einen Geschwister-Streit. Das eine Kind hatte dem anderen offensichtlich weh getan und das andere war darüber sehr empört. Beide Kinder weinten und schrien. Der Vater griff ein. Er sagte dem einen Kind nachdrücklich, dass es sich entschuldigen solle. Dieses tat es schließlich widerwillig. Das andere Kind hörte deshalb aber nicht auf zu schreien. Es war weiterhin sauer und verletzt über die Attacke.
Der Vater sagte zu dem Kind: „Hör auf zu weinen! Sie hat sich entschuldigt und dann muss man die Entschuldigung auch annehmen!“
Ich war völlig schockiert über so viele – in meinen Augen – falsche Annahmen in kurzer Zeit und diese Szene beschäftigt mich weiterhin so stark, dass ich nun einen Artikel darüber schreiben möchte.

 

Ent-schuld-igen

Da ist zum einen der Begriff „entschuldigen“.
Ent-Schuld-igen. Ich entledige mich meiner Schuld.
Was passiert mit meiner Schuld?
Gemäß des Verständnisses des Schwimmbad-Vaters geht diese nun auf den Anderen über. Der hat nun die Schuld. Er soll annehmen, verzeihen, gut sein lassen. Schließlich hat man sich ja entschuldigt und somit alles getan.
Auf das Thema „Den Kindern beibringen sich zu entschuldigen“ bin ich ja schon in meinem Artikel über Höflichkeit eingegangen.

Gehen wir einmal kurz davon aus, dass das Kind 1 wirklich Reue über das empfindet, was es getan hat. Ob das der Fall war, können wir nicht wissen, denn es hatte keine Chance dies selbst herauszufinden und hat von außen Scham und Schuld auferlegt bekommen.
Vielleicht möchte es dann etwas in der Art sagen (oder denkt es, weil Worte oft so schwer zu finden sind, wenn man wütend ist und gleichzeitig weiß, dass das Murks war, was man da gerade fabriziert hat):
„Es tut mir Leid. Ich wollte dir weh tun, weil ich so sauer auf dich war, aber ich wollte dir nicht SO DOLL weh tun. Jetzt weinst du und ich fühle mich schlecht, dass es dir wegen mir so geht. Ich würde es gerade am liebsten ungeschehen machen, aber das geht ja leider nicht.“
DAS wäre eine wirklich ehrliche und ernst gemeinte Entschuldigung.

 

Was heißt es „eine Entschuldigung anzunehmen“?

Wäre dann der Empfänger dieser Botschaft wirklich aufgrund der Ehrlichkeit und Reue verpflichtet, diese auch „anzunehmen“? Und wenn ich das schon in Anführungszeichen schreibe: Was heißt das überhaupt???
Meines Erachtens heißt „eine Entschuldigung annehmen“ nur, dass ich dem anderen glaube, was er mir sagt, dass ich sie „annehme“, im Sinne von „entgegennehmen“. Ich kann anerkennen, dass es dem Anderen Leid tut, dass er mich verletzt hat.

 

Die Reue eines Menschen anzuerkennen heißt nicht, dass es keine negativen Gefühle mehr geben darf!

ABER: Ich kann (und darf!) dennoch sauer und traurig sein! Ansonsten wäre eine Entschuldigung nichts weiter als ein getarntes „Halt die Schnauze und tu so, als wäre niemals etwas vorgefallen!“ Ein vorgeschriebenes Unterdrücken von Gefühlen, von Auseinandersetzung und von Aufarbeitung Eine Vermeidung sich mit dem anderen IM Schmerz zu verbinden, ja, vielleicht sogar eine Vermeidung den Schmerz anzuerkennen.

 

Vergebung ist ein Prozess

Dabei könnte Vergebung erst in diesem Prozess entstehen und je schwerer die Verletzung war, desto länger braucht dieser Prozess. Kein Mensch hat das Recht in diesen Prozess von außen bestimmend einzugreifen. Gar Vergebung zu befehlen. Denn dies ist nicht nur übergriffig, sondern ganz und gar unmöglich. Noch mehr natürlich, wenn schon die Entschuldigung befohlen war.

Eltern tun damit ihren Kindern langfristig keinen Gefallen, erst recht nicht, wenn es bei Geschwisterkindern so gehandhabt wird. Vor allen Dingen tun sie sich SELBST keinen Gefallen.

 

Unterdrückte Konflikte haben massive Auswirkungen

Ungeklärte Konflikte gären. Die Kinder konnten ihre Beziehung in dem Moment nicht klären, sie wurden mit ihrer Wut und ihrer Verletzung nicht gesehen; auch konnten sie keine eigenen Lösungswege finden. Der soeben unterdrückte Konflikt wird sich also – vermutlich schon bald – an anderer Stelle Bahn brechen und schon vergeht ein ganzer Nachmittag, an dem man nur versucht zu verhindern, dass die Kinder sich gegenseitig an die Gurgel gehen.

Ich will nicht sagen, dass dadurch, dass Kinder ihre Streite (unter Umständen mit Begleitung – je nach Alter und Schwere des Streites) ausführen dürfen und dadurch, dass ihnen geholfen wird, sich auszudrücken, keine Streitsituationen mehr auftreten. Das wäre illusorisch, denn Konflikte sind notwendig auf dem Weg zur Ich-Werdung. Wer bin ICH in Abgrenzung zu jemandem, der mir nahe steht? Ist mir in dieser oder jenen Situation Harmonie und Zugehörigkeit wichtiger oder muss ich für meine Integrität kämpfen? Bin ich meinen Eltern genauso wichtig wie mein Bruder oder meine Schwester? All das sind wichtige Fragen, die ständig neu aufgeworfen werden.

Aber es wird nicht von außen eine Situation geschaffen in der NOCH MEHR Konflikte entstehen. Und die Kinder lernen etwas über sich und den anderen. Die Beziehung kann sich entwickeln und wachsen. Ehrliches Verständnis füreinander und gute Lösungen für alle Konfliktpartner und somit auch echter Frieden können entstehen.

 

„Das wird ein Nachspiel haben!“

Hier gilt mal wieder das Sprichwort „Was du nicht willst, was man dir tut…“.
Denken Sie mal an den letzten Streit mit Ihrem Partner, Ihrer Freundin oder Ihrem Kollegen. Sie sind richtig sauer (und Ihrer Ansicht nach natürlich im Recht!). Da kommt jemand in den Raum und schreit:
„Stop!! Hier wird nicht geschrien! Sofort vertragt ihr euch! Entschuldigt euch und gebt euch die Hand!“

Wie würde es Ihnen damit gehen? Und wenn Sie Ihrem Partner zähneknirschend die Hand gäben, wäre dann wirklich alles gut? Hätten Sie dann wirklich „aufgehört zu streiten“? Oder hätten Sie den Streit nur nach innen verlagert und er würde an anderer Stelle weiter geführt?

Ich habe gerade eine Filmszene im Kopf, in der sich zwei Menschen in Anzügen heftig streiten und von ihrem Chef zur Ordnung gerufen werden. Sie geben sich die Hand und der eine zischt dem anderen zu: „Das wird ein Nachspiel haben!“
Kurz zusammengefasst: Das hatte es dann auch.

 

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    Natascha Makoschey (Baujahr 1983) hat einen 9-jährigen Sohn und arbeitet als Kinderkrankenschwester in der Geburtshilfe. Wenn sie nicht gerade Bücher liest, zwangsweise Uno spielt oder darüber nachdenken muss, welchen Pokémon sie am liebsten mag, dann quatscht, strickt oder singt sie.

      1 Comment

    1. Julia

      Antworten

      Dieser Artikel ist super und ich möchte dazu anmerken, dass meine Kinder (3 und 5 Jahre alt), wenn einer dem anderen wehgetan hat und es sich entschuldigt, das andere dann auch mal sagt “Ist nicht gut” (statt “Ist gut”)…;-) Das finde ich total niedlich und zeigt, dass sie einfach noch nicht bereit sind, sich zu verzeihen. Danach spielen sie aber trotzdem weiter als wäre nichts gewesen…

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