Kindheit

Ich kann es nicht mehr hören, echt.
In jedem großen Medium, in allen Nachrichten geht die Alarmmeldung herum, dass unsere Kinder während der Zeit der Schulschließung aufgrund der Covid-19-Pandemie schrecklicherweise viel mehr Zeit vor den Bildschirmen verbracht haben als sonst und dafür viel weniger Zeit für Lernen investiert haben als in Präsenzschulzeiten.

Meine Lieblings-Zwischenüberschrift – Ironie – in einem ZEIT-Artikel mit dem Titel “Bereit für die Schüler” (Ausgabe 33 vom 6. August 2020) von Manuel J. Hartung war “Daddeln statt Didaktik”, auf die er bestimmt selbst beim Schreiben ganz stolz war.

https://www.zeit.de/2020/33/schulstart-sommerferien-corona-krise-lehrstoff-aufholen-homeschooling

Nun haben wir fast alle Lernaufgaben kennen gelernt, die unsere Kinder emotional gesund groß werden lassen.
Der letzte Baustein ist: Liebe und Sexualität.

Meine Artikel sind natürlich nie reine objektive Wissensvermittlung, sondern auch ganz viel Meinung und Erfahrungsbericht. Das ist bei diesem speziellen Thema noch mehr so. Und ich werde in einem weiteren Teil auch das Thema des Sexuellen Missbrauchs behandeln. Also bitte ich Euch gut auf Eure eigenen Grenzen zu achten, ob der Artikel für Euch heute dran ist und liebevoll für Euch zu sorgen, wenn Teile davon Euch stark berühren. Mir ging und geht es selbst nicht anders.


Worum geht’s in dieser Entwicklungsphase?

Zwischen dem dritten und sechsten Lebenjahr beginnt das Kind sich als sinnliches Wesen wahrzunehmen. Es beginnt verschiedene Rollen auszuprobieren und auch zu flirten. Die meisten Kinder beginnen in dieser Zeit ihren Körper genauer zu entdecken und auch die klassische Phase der „Doktorspiele“ mit anderen Kindern fängt hier an. Kinder möchten in ihrer Geschlechtlichkeit wahrgenommen werden.

Entwicklungsschritte, die Kinder in dieser Zeit meistern ist das Sprechen in ganzen Sätzen und das fließende Wechseln von Realität zu Fantasie. Auch die ersten „Lügen“ fallen in diese Zeit und sind Meilensteine des Gehirns. Eine Voraussetzung für das Lügen ist das Verstehen davon, dass jemand anderes etwas anderes weiß als man selbst (oder eben auch nicht) und das Erkennen von Ursache und Wirkung.

Ein zweijähriges Kind, das sich hinter seinen eigenen Händen versteckt und glaubt, man könne es dort nicht sehen, weil es bei ihm selbst gerade dunkel ist, ist einfach nicht in der Lage zu flunkern.


Geschlechteridentität, Gender-Zementierung und Feminismus

Kinder zwischen drei und sechs beschäftigen sich stark mit ihrem eigenen Geschlecht und Geschlechterrollen. Viele zelebrieren in dieser Zeit das über, was sie für ihr eigenes Geschlecht als „salonfähig“ erkannt haben. Dabei hilft unsere Industrie natürlich fleißig und gern mit. Selten gab es so viel geschlechtergetrenntes Spielzeug und Kleidung wie heute.

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Manche Kinder empfinden in dieser Phase (und auch darüber hinaus) ihr biologisches Geschlecht als fluid und wechseln zwischen ihnen hin und her.

Oder sie möchten eine ganze Zeit lang eben genau das andere Geschlecht sein, dass sie „sind“. Einen Freund meines Sohnes mussten wir etwa ein halbes Jahr mit einem Mädchennamen ansprechen und er trug Kleider. Mein Sohn trug zwischendurch Kleider und Nagellack, aber war sich seiner Identität als Junge immer sehr bewusst. Er hat nur „Mädchen gespielt“, während es seinem Freund bitterernst war und es Tränen und Wutgeschrei geben konnte, wenn man ihn versehentlich mit seinem eingetragenen Namen rief.

Es geht also um das Herausfinden der eigenen Geschlechteridentität und was es überhaupt heißt, dass es unterschiedliche Geschlechter gibt. Die ständig hervorgehobene Dualität in unserer Gesellschaft hilft da nicht wirklich weiter und führt auch immer noch zu nervtötenden Stereotypen.

Ich erinnere zum Beispiel ein Gespräch mit meinem Sohn, in dem er sagte, dass ich ja eine Frau sei und VIEL MEHR Angst als er habe. Er sei ja ein Mann und deshalb quasi per se furchtlos.
Zum einen fühlte ich mich natürlich in meiner persönlichen Ehre gekränkt. Hatte ich doch gerade erst einen Tag vorher mit meiner Spinnenphobie gedealt und eine große Spinne mit einem Glas nach draußen gesetzt, während mein Sohn schreiend auf dem Küchentisch gestanden hatte, bis die Spinne endlich weg war. Aber noch viel gefährlicher fand ich, dass er glaubt, dass „Angsthaben“ etwas Schlechtes ist und dass die Tatsache, dass man sich tapfer und teilweise großkotzig verhält, angeblich darauf schließen hat, dass man keine Ängste empfindet.

Mein sehr persönliches Gefühl ist, dass Frauen in unserer Gesellschaft immer noch stark benachteiligt und vor allem sexualisiert werden, das aber kleinen Mädchen mittlerweile eine größere Rollenvielfalt zugestanden wird als Jungen. Das Geschlechterbild für kleine Jungs ist nach wie vor sehr eng und es hat mich erschreckt, wie ich im „ach so toleranten Köln“ teilweise von Männern angefeindet wurde, weil ich meinen Jungen Kleider tragen ließ. Offensichtlich müssen Männer immer sehr aufpassen, dass ihnen durch das Tragen von bestimmten Kleidungsstücken nicht versehentlich ein Stück Penis verloren geht.
Sau-gefährlich *ironieoff*.

Andererseits werden auch schon kleine Mädchen nach wie vor häufiger als “zickig” bezeichnet, während Jungen eher dafür gelobt werden ihre Meinung durchzusetzen. Dass in einem Einzelfall ein Vater ein vierjähriges Mädchen fragte, “ob es seine Tage habe” als es schlecht gelaunt war, zeigt nur die Spitze der Absurdität und häufig fehlenden Wertschätzung. Auch der Satz zu einem weinenden Jungen “Du bist doch kein Mädchen!” zeigt eine deutliche Herablassung und ist leider immer noch kein Einzelfall.


Große Gefühle und Erfahrungen

Zu der herausfordernden ersten Auseinandersetzung mit Rollenbildern und dem Geschlechterbild entwickeln sich bei Kindern in dieser Zeit aber auch erste sehr enge Freundschaften und auch Verliebtheiten. Auch kleine Kinder haben romantische, sinnliche und auch sexuelle Gefühle – für sich selbst und für andere Menschen. Diese Gefühle wollen auch gelebt und zelebriert werden – die Ausprägungen sind natürlich von Kind und Kind unterschiedlich.

Der Umgang des Umfeldes mit dem Kind und die Erfahrungen, die ein Kind in dieser Zeit macht, entscheiden auf jeden Fall zum großen Teil darüber, ob es im späteren Leben Liebe und Sexualität miteinander vereinbaren kann. Ob es in der Lage ist Nähe und Sexualität auseinander zu halten. Ob es seine eigenen Grenzen im ersten Schritt wahrnehmen und im zweiten Schritt schützen kann. Ob es sich selbst als sinnliches Wesen wahrnehmen kann und sich daran freuen kann. Und ob es Sexualität als natürlichen Teil einer lebendigen Liebesbeziehung erfahren kann.

Was braucht ein Kind dafür um das zu lernen und die ihm angeborene Freude über seinen Körper und sinnliche Gefühle zu erhalten?


Unverzichtbar: Regelmäßige Berührungen und Körperkontakt!

Zuallererst: Menschen, die von Geburt an mit ihm in einer auch körperlich-sinnlichen Liebesbeziehung stehen. Und das in einer Weise, die in keiner Weise missbräuchlich, grenzüberschreitend und überfordernd ist!

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Alle Menschen sind zutiefst sinnliche Wesen. Jeder von uns ist auf zärtliche Berührungen angewiesen. Enge Umarmungen, Streicheln, zärtliches Anschauen mit den Augen… Ich rede hier nicht von Sex. In unserer sexualisierten Gesellschaft ist es allerdings so, dass Menschen, die keinen Partner haben kaum Berührungen gibt – zumindest wenn man nicht gerade weiblicher Teenager ist, wo es halbwegs geduldet wird, dass sie zärtlich zueinander sind.

Die meisten von uns sind also körperlich ziemlich verhungert. Die Tatsache, dass Berührung meist nur im Zusammenhang mit Sex zu haben ist, sorgt dann für eine weitere seelische Deformierung, die gerade Frauen häufig in eine innere Hab-Acht-Stellung gehen lässt und manches Mal sogar jedwede Art von körperlicher Berührung ablehnen lässt.
Ob der Hang zu sexualisiertem Druck oder gar Gewalt bei Männern eine Folge davon ist, dass Männer auf der einen Seite körperlich und emotional mangelernährt sind und ihnen gleichzeitig oft abtrainiert wird, empfindsam, bedürftig, kuschel- und schutzbedürftig zu sein, vermag ich nicht zu sagen – in meinem Kopf wäre das allerdings schlüssig.


Für Kinder gilt das Bedürfnis nach Berührung noch viel stärker als für uns Erwachsene. Zum einen ist Berührung, die Information über sich selbst, die sie über Berührung erfahren, ihre erste Sprache. Zusätzlich ist sie das wirkungsvollste Instrument zur Co-Regulierung, zum Trösten und Beruhigen, ja, auch zur Prophylaxe von Wutanfällen und Meltdowns in der Autonomiephase.


Kinder, die zu wenig liebevollen Körperkontakt bekommen, zeigen nachweislich mehr Verhaltensauffälligkeiten und sind ebenfalls anfälliger für Krankheiten jeder Art. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass die Ursache der Magersucht ihren Ursprung darin haben könnte, dass diese Menschen in einer sensiblen Phase der Hirnreifung nicht ausreichend taktile Botschaften bekommen haben.


Ideale Bedingungen versus Alltagsrealität

Inwiefern vernachlässigt aber ein „normaler“ Alltag kleine Kinder in unserer Gesellschaft? Wenn ein Kind ab dem zweiten Geburtstag wochentags von 9 bis 17 Uhr im Kindergarten ist? Wenn auf eine Erzieherin zehn Kinder kommen? Wenn sie also schon rein rechnerisch nicht jedes Kind ausreichend in den Arm nehmen kann? Hinzu kommt, dass manche Kindergartenleitungen einen distanzierten Umgang mit den ihnen anvertrauten Kindern empfehlen aus Angst vor Mißbrauchsskandalen. Und selbst wenn das nicht vorliegt, entscheiden sich einige Erzieher aus eigener Vorsicht dazu. Auch Tagesmütter habe ich schon getroffen, die mir erzählt haben, dass sie ihnen anvertraute Babys (!) nicht so viel kuscheln, damit die Eltern auf die gute Bindung nicht eifersüchtig werden. Das mögen Ausnahmen sein, aber ich glaube, dass in vielen Kindergärten schon der normale Alltag weniger Körperkontakt zulässt als den Kindern gut tun würde.

Als der Mißbrauchsverdacht gegen einen Mitarbeiter des Spielkonzeptes „Original Play“ an die Öffentlichkeit kam, empörten sich viele Eltern nicht nur über diese Mißbrauchsvorfälle (vollkommen zu Recht), sondern auch gegen dieses Spielkonzept, das auf ursprünglichem Spiel wie Toben und Umherzwälzen besteht. „So etwas darf nur zu Hause stattfinden“ las ich oft in Facebook-Gruppen.

Aber vom Kindergarten weg gedacht – FINDET denn zu Hause ausreichend Kuscheln und Toben statt? Ich gehe davon aus, dass meine Leser hauptsächlich bedürfnisorientierte Eltern aus dem „Attachment Parenting“-Bereich sind, das sie also grundsätzlich von Baby an schon einen körperbetonteren Umgang mit ihren Kindern hatten als der Mainstream. Und ich möchte hier wirklich niemanden anklagen, sondern nur unsere gängige Lebens-Art hinterfragen.
In vielen Familien schlafen Kinder zwischen drei und sechs bereits in ihrem eigenen Zimmer. Morgens ist es vielfach stressig und es bleibt vor dem Kindergarten kaum Zeit zum Auftanken von Körperkontakt. Hier in Köln ist es eine vielgelebte Realität, dass Kinder erst zwischen 16 und 17 Uhr aus dem Kindergarten abgeholt werden. Drei bis vier Stunden später – oft nach einem Nachmittagsprogramm – werden die Kinder dann wieder ins Bett gebracht. Sicherlich werden viele Eltern ihre Kinder zwischendurch in den Arm nehmen. Aber REICHEN diese kurzen Fenster der Berührungen in einem durchgetakteten langen Alltag, in dem die Kinder durch “Funktionieren müssen” einem permanenten hohen Stress ausgesetzt sind?

Ich habe darauf keine Antwort. Mein Gefühl ist allerdings so, dass es vielerorts nicht reicht. Viele „Verhaltensauffälligkeiten“ von Kindern beobachte ich als Schrei nach Liebe. Nicht nur intellektueller Liebe. Sondern körperlicher Liebe. Anfassen, riechen, balgen.

Und in diesem Artikel geht es ja dann auch noch im die Entwicklung der sexuellen Gefühle. Bezeichnenderweise fällt in dieses Alter ja eben auch die Zeit, in der unsere Kinder uns heiraten wollen, also tiefe Liebesgefühle für ihre – meist gegengeschlechtlichen – Elternteile haben.


“Mama, wenn ich groß bin, heirate ich dich!”

Die Art, wie diese Liebesgefühle beantwortet werden, entscheidet mit darüber, welche Gefühle zuallererst mit Liebe verbunden werden. Fühlen sich unsere Kinder gesehen, angenommen und gewollt? Oder merken sie, dass ihre Liebesbekundungen uns unangenehm sind? Fühlen sie sich abgelehnt in ihrem Wunsch ihre Liebe auszudrücken?

In unserer Gesellschaft kommt es ja relativ oft vor, dass Frauen Männer hinterher rennen, die sich gar nicht für sie interessieren oder sie gar schlecht behandeln. Ich glaube nicht an Monokausalität; jedoch ist der „abwesende Vater“, den viele von uns als Kinder erlebt haben, ganz klar eine Ursache dafür. Viel arbeitend oder vielleicht irgendwann abgehauen. Nicht viel Zeit und nicht viel Lust zum Spielen. Oft erst nach Hause kommend, wenn wir schon geschlafen haben.

Jahrelang habe ich mich an diesem Bild an meinen Partnern abgearbeitet.

Männer sehen in ihren Partnerinnen oft ihre kontrollierenden Mutter. Die Gleichung „Liebe gleich Kontrolle gleich Verlust der Freiheit“ scheint hier öfter vorzukommen. Kaum ein Sketch in dem nicht das Klischee der Männerrunde aufgenommen wird, in dem sich der Ehefrau passiv-aggressiv verweigert wird und sich gegen sie verbündet wird, als müsse man einer Kontrollinstanz entkommen.

(Wen das Thema interessiert, kann ich für den leichten Einstieg folgende Bücher empfehlen:
„Schluss mit dem Beziehungskrampf“ von Michael Mary
„Wenn Frauen zu sehr lieben“ von Robin Norwood
“Sie sagt, er sagt” von Doris Kumbier)

Zusätzlich zu einer innigen körperlichen Beziehung, scheint es sich also für Mütter zu empfehlen Abstand von einem vereinnahmend-kontrollierenden Umgang zu nehmen und für Männer wiederum das Arbeits- und Lebensmodell zu überdenken, in dem sie leben und ausreichend verfügbar zu sein.

In dem Maße, in dem Rollenbilder sich immer mehr angleichen oder natürlich auch bei gleichgeschlechtlichen Elternpaaren, muss natürlich jeder Elternteil alle Aspekte bedenken.


Wie sieht es in unserer Familie aus?

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Hilfestellungen für Überlegungen können sein:

-> Wird in unserer Familie oft genug gekuschelt oder/und getobt? Wo ist in unserem Alltag Platz für Rückenkraulen, Massagen, Raufen, Spiele und Tänze in denen sich berührt wird? Was passt zu uns und was passt zu unserem Kind oder unseren Kindern?

-> Welche Erfahrungen habe ich selbst in meiner Kindheit gemacht? Gibt es etwas, was mich an einem sinnlich-körperlichen Umgang mit meinen Kindern hindert und was ich anpacken darf?

-> Wie viel positive, PROAKTIVE Aufmerksamkeit erfahren meine Kinder? Proaktiv heißt, ich nehme sie positiv wahr und Kontakt zu ihnen auf, BEVOR sie Kontakt zu mir aufnehmen oder mir gar zeigen, dass sie bereits im Mangel sind.

-> Wie verläuft die Zeit außerhalb von Fremdbetreuung in unserer Familie? Wie ist die Stimmung? Wie voll oder leer ist unser elterlicher Tank? Wie verläuft das Abendessen und das Zu-Bett-gehen in der Regel? Ist es mehrheitlich eine schöne Zeit oder ist es sich täglich wiederholender Stress?

-> Wie ist der Umgang und das Menschenbild der Erzieher oder Tageseltern, die mein Kind betreuen? Nehmen sie die Kinder in den Arm oder kuscheln regelmäßig „mit den Augen“? Haben sie einen wohlwollenden, vertrauenden Blick auf Kinder oder sind sie nur gestresst damit beschäftigt eine Katastrophe nach der anderen zu verhindern?

-> Wie reagieren wir auf Liebesbezeugungen unserer Kinder oder auch auf die Entdeckung ihres Körpers und ihre körperlichen Erfahrungen mit anderen Kindern?

-> Was haben wir selbst in unserer Kindheit erlebt? Wer war unsere erste große Liebe im Kindergarten oder in der Grundschule? Wie gestaltete sich die Liebesbeziehung zu unseren Eltern?

Das werden bestimmt sehr spannende und emotionale Gespräche und ich wünsche Euch einen klaren Blick, den Mut und die Liebe Unterschiedlichkeit auszuhalten und dem eigenen Eltern-Sein ins Auge zu blicken!

Dank an Sharon McCutcheon und Pexels

Kennt ihr den Begriff „Erlernte Hilflosigkeit“?

Dieser wird verwendet, wenn ein Mensch den Glauben an seine Fähigkeit und auch sein Recht zur Gestaltung seines Lebens – oder Teilen davon – verloren hat. Obwohl ihm theoretisch wie jedem anderen Menschen auch viele Möglichkeiten offen stehen, sein Leben zu verändern und damit hoffentlich zu verbessern, kann er sie nicht ergreifen. Und ich rede wirklich von „Können“.

In Experimenten wurden der Boden eines Versuchskäfigs mit Hunden unter Strom gesetzt. Ein Teil der Hunde hatte die Möglichkeit sich über eine kleine Hürde in einen Bereich des Käfigs zu retten, in dem der Boden nicht unter Stromspannung stand. Dem anderen Teil der Hunde stand diese Möglichkeit nicht zur Verfügung. Sie waren gezwungen in dieser misslichen Situation auszuharren und sich mit dieser zu arrangieren.

Setzte man sie später in denjenigen Käfig, in dem es möglich war den Spannungsbereich durch einen Sprung über die Hürde zu verlassen, taten sie dies dennoch nicht. Sie versuchten genau GAR NICHTS um der Situation zu entkommen, sondern hatten bereits verinnerlicht, dass diese ausweglos war und sie einfach nur warten konnten, bis die peinigenden Stromstöße ein Ende nahmen. Sie blieben völlig passiv.

Genauso ist es mit domestizierten Tieren, die die Zügel als mächtiges und kontrollierendes Werkzeug erfahren haben. Selbst wenn sie nur an einem mickrigen Stuhl angeleint sind oder einem dünnen morschen Zaunpfahl, bleiben sie brav und angepasst stehen, obwohl es ihnen ein leichtes wäre sich loszureißen.

 

Immer schön in der Scheiße liegen bleiben, die man schon kennt

 

Im ersten Teil der Serie bin ich auf die Zeit der Schwangerschaft und Geburt eingegangen. Was braucht ein kleiner Mensch, um sich im Mutterleib und bei seiner Reise auf die Welt sicher und willkommen zu fühlen? Welche Auswirkungen hat es, wenn es das nicht tut?

Ich habe das selbst vor einigen Wochen sehr intensiv auf einem Re-Birthing-Seminar erlebt, in dem ich quasi noch einmal geboren wurde. Eine gigantische Erfahrung. Und ich weiß nun, dass jede geburtshilfliche Intervention, auch wenn sie letzten Endes bedeutet, dass das Kind nicht stirbt, ein massiver Eingriff ist und wirklich gut überlegt sein will. Und im besten Falle auch an das Kind kommuniziert.

Die nächste Entwicklungserfahrung, die ein Baby macht, ist, wie mit seinen Bedürfnissen umgegangen wird. Und ob es wirklich SATT ist – im körperlichen und erst recht im emotionalen Sinn.

Häufig liest man, das wir in einer „Überfluss-Gesellschaft“ leben. Und das stimmt auch, zumindest in materieller Hinsicht. Was jedoch emotionale und körperliche Belange angeht, sind wir eine Mangel-Gesellschaft. Absolut. Und all der materielle Überfluss ist nur ein Weg diesen inneren Mangel zu kompensieren. Wir haben NIE GENUG. Wir SIND nie genug. Wir sind unverbunden mit uns selbst und geben das an unsere Kinder weiter. Natürlich, denn diese gucken sich von uns ab, wie man lebt und wie man mit sich selbst umgeht.

Gerade, wenn die Bedürfnisse der Eltern in ihrer Kindheit selbst nicht erfüllt wurden, entwickeln sie eine Art ihre Bedürftigkeit einzufordern, die sehr wenig erwachsen ist und die einem kleinen Selbst nicht dabei hilft, sein eigenes Ich auszubilden. So können viele Erwachsene nicht damit umgehen, wenn Kinder ihren eigenen Willen haben, weil sie sich davon bedroht fühlen, vielleicht sogar das Gefühl haben, sie würden ihr Kind dadurch verlieren.

Fakt ist für uns Erwachsene: Kein anderer Mensch ist für die Erfüllung unserer Bedürfnisse zuständig. Erst recht kein kleiner Mensch. Stattdessen sind wir als Erwachsene für die Erfüllung der Bedürfnisse unserer Kinder zuständig, damit diese möglichst SATT ins Leben gehen können und weniger emotional mangel-ernährt sind, wie wir das vielleicht sind.

„Es gibt keine schwierigen Kinder“ steht auf dem Klappentext des Buches „Das überreizte Kind“ von Dr. Stuart Shanker. Und damit hatte er mich schon für sich gewonnen.

Als ganzes Zitat geht das dann so:
„Problematische Verhaltensweisen sind Ausdruck der Unfähigkeit eines Kindes, in diesem Augenblick auf alles, was um es herum vor sich geht – Geräusche, Lärm, Ablenkungen, unangenehme Empfindungen, Gefühle -, zu reagieren.“

Aber oft genug sehen Eltern, Erzieher und Lehrer nicht die VERHALTENSWEISEN der Kinder als problematisch an und suchen gemeinsam nach den Ursachen, um diese zu minimieren, sondern das ganze KIND wird als problematisch beschrieben. Oft immer und immer wieder. Und daraus formt sich natürlich ein negatives Selbstbild mit all seinen daraus resultierenden Problemen.

Shanker plädiert dafür, uns zu fragen, wie wir die natürliche Neigung unseres Kindes zu Fürsorge und Mitgefühl fördern können anstatt uns zu fragen, wie wir aus ihm einen anständigen Menschen machen können.

– Das neue Wunschkind-Buch

Ich habe

das neue Wunschkind-Buch
für einen bedürfnisorientierten Umgang mit Kindern von fünf bis zehn Jahren der beiden Autorinnen Danielle Graf und Katja Seide, bekannt durch ihren Blog „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ direkt nach Erscheinen gelesen.
(Falls Ihr das Buch oder etwas anderes über diesen Link bei Thalia kauft, erhalte ich eine winzig kleine Provision und danke Euch für Eure Unterstützung!)

Um es vorweg zu nehmen:
Ich bin wirklich begeistert und finde dieses Buch auf unfassbar vielen Ebenen wertvoll.

Es stärkt Eltern bedürfnisorientierte Wege mit ihren Kindern zu finden, gibt Einblick in die entwicklungspsychologischen Meilensteine von Kindern zwischen 5 und 10 Jahren und ist – wie das Vorgängerbuch auch – prall gefüllt mit gut nachvollziehbaren Beispielen und praktischen Tipps. Gerade das Kapitel zur nachhaltigen Konfliktbegleitung hat mich sehr beeindruckt und da habe ich mir noch mal manches rausziehen können. In einem Kapitel wird das Kommunikationstool „Aktives Zuhören“ erklärt und die Tiefe der dargestellten Unterhaltung, der Schmerz des Kindes, der auf diese Art und Weise Raum haben konnte und vermutlich nach diesem und folgenden Gesprächen positiv in seine Gefühlswelt integriert werden konnte, hat mir die Tränen in die Augen getrieben.

Und die Idee Kindern das 4-Ohren-Modell zu erklären und so die Kommunikation zu verbessern habe ich auch direkt aufgegriffen. (Allerdings stieß das bei meinem Sohn auf sehr wenig Interesse und ich bin es vermutlich zu „lehrerhaft“ angegangen.)

In meinen Augen sind die beiden hervorstehenden Werte des Buches „Zutrauen“ und „Vertrauen“.

Den Kindern zutrauen, dass sie Verantwortung für ihren eigenen Körper und altersgerecht auch über ihr Leben übernehmen können – natürlich mit liebevoller Begleitung und Unterstützung. Und Vertrauen darin, dass Kinder stets mit ihren Eltern kooperieren wollen und dass es wichtige Gründe hat, wenn sie es nicht tun. Vertrauen darin, dass Kinder alles in sich tragen, um verantwortungsvolle Erwachsene zu werden. Und dass weder Belohnungen noch Bestrafungen nötig sind, um sie dahin zu bekommen. Ja, sogar für ihr inneres Selbstbild und ihr Selbstwertgefühl schädlich sind.

So, mir ist heute nach Streiten!

Nicht mit Euch, liebe Leser. Sondern mit dem Staat und den Medien, die uns ständig versucht irgendeinen Blödsinn ins Gehirn zu pupsen. Zum Beispiel, dass wir Frauen nur aus Bequemlichkeit keine Karriere machen und dass an den überqualifizierten Frauen, die nun maximal Teilzeit arbeiten massiv Steuergelder verschwendet wurden und sich die Frage stellt, ob man das Studium von Frauen unter den Umständen überhaupt staatlich unterstützen solle. Geschrieben – von einer Frau.

Und heute entscheide ich mich für das Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“. Ich habe nämlich kürzlich folgendes Buch gelesen (achtung, affiliate-Link!):

Geht doch alles gar nicht

Vorneweg: Ich freue mich über jeden, der einen Job hat, den er mag und wenn er für seine Kinder und seine Familie Lösungen gefunden hat, mit dem es allen gut geht. Mir geht es nicht darum, dass Lebensmodell einzelner Menschen anzuprangern, sondern die Strukturen, die es den Familien oft so schwer machen, eine gute Vereinbarkeit hinzubekommen.

Im Grunde genommen, wird zwar uns Deutschen zwar einerseits ein schlechtes Gewissen gemacht, weil wir so wenig Kinder bekommen (statistisch waren es 2016 1,59 Kinder pro Frau). Andererseits aber hat man, sobald der Schwangerschaftstest positiv ausfällt, das Gefühl dass dieses Kind im Grunde keiner will. Zumindest nicht bis es erwachsen ist und hoffentlich eine gut ausgebildete Fachkraft geworden ist.

Will der Staat wirklich unsere Kinder?

Jean-Jacques Rousseau und Françoise Dolto

In meinem letzten Artikel habe ich mich mit der französischen „Erziehung zur Geduld beschäftigt.

Die nächsten zwei Kapitel widmet Pamela Druckerman einer Rückschau zum Thema „Umgang mit Kindern“ und die „Entstehung des französischen Krippensystems“.
Sehr, sehr spannend.

Wer sich dafür interessiert, wie sich die Säuglingspflege und der Blick auf Säuglinge und Kinder in den letzten 300 Jahren in Deutschland verändert hat, dem kann ich nur wärmstens das Buch „Wenn Babys reden könnten“ des 2015 verstorbenen Kinderarztes Prof. Dr. med. Friedrich Manz ans Herz legen. Dieses Buch habe ich nach dem Lesen von Pamela Druckermans Kapitel sofort aus meinem Regal gezogen und lese mich nun schon wieder den ganzen Morgen in dem 650-Seiten-Werk fest.
Dabei bin ich darauf gestoßen, dass auch in Deutschland feste Fütterungszeiten (was ja Thema im letzten Beitrag war) bis vor gar nicht so langer Zeit als normal galten. Die Entwicklung in den Kinderkliniken hin zu „Füttern nach Bedarf“ dauerte bis Ende der 1980er Jahre. Allerdings galt das zu dem Zeitpunkt nur noch begrenzt für den privaten Raum. Und was Kliniken angeht wissen ja alle Eltern, die schon mal mit ihrem Kind in eine Kinderklinik mussten, wie hoffnungslos rückständig diese heute noch zumeist sind.

Aber zurück zum heutigen Thema. Wobei das wirklich nicht ganz leicht auszumachen ist. Es lässt sich am ehesten zusammenfassen mit:

 

Was sind die Eckpfeiler des französischen Erziehungsstils?

Für meine artgerecht-Prüfung habe ich mich im letzten Beitrag dem frühen Durchschlafen von Säuglingen gewidmet. Über diesen Artikel wurde in einigen Gruppen rege diskutiert und ich darf nun meine Kompetenzen ausweiten, mit Gegenwind umzugehen. 😉

Da ich mich ja themenmäßig an dem Buch „Warum französische Kinder keine Nervensägen sind“ entlang hangele und dieses Buch per se nicht bedürfnisorientiert ist, ist der Sprengstoff quasi schon im Paket mit inbegriffen. Und da meine Aufgabe nicht ist, einfach alles scheiße zu finden, was die Autorin Pamela Druckerman so von sich gibt, sondern mich damit AUSEINANDER zu setzen, werde ich das auch weiterhin tun.

Allerdings möchte ich noch einmal klarstellen, dass es sich hier um MEINE Gedanken handelt und nicht um allgemeingültige Wahrheiten. Denn die gibt es meiner Ansicht nach sowieso nicht.

 

Die Haltung ist entscheidend (und von außen oft nicht erkennbar)